Freundschaftsanfrage an Ewald Christian von Kleist

Schon vor Facebook gab es ein "Jahrhundert der Freundschaft"

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Freundschaft sei das edelste Gefühl, dessen das Menschenherz fähig ist, schrieb Carl Hilty vor mehr als hundert Jahren in einem Bestseller über Glück. Also müsste die Gegenwart das edelste aller Jahrhunderte sein. Denn es hat noch nie vorher so viele offiziell als solche deklarierte Freundschaften gegeben: Wenn von 1,11 Milliarden Facebookmitgliedern im Schnitt jeder Nutzer 130 "Freunde" hat, dann sind das ungefähr doppelt so viele Freunde, wie es Menschen auf der Erde gibt.

Freundschaft in Prä-Facebook-Zeiten: Ewald Christian von Kleist, Gemälde von Gottfried Hempel.Bild: gemeinfrei

Diesem stolzen Ergebnis werden aber immer wieder Zweifel entgegengebracht und verschiedene Infotainment-Formate führen gerne immer wieder die reale Hilfsbereitschaft virtueller Freundschaftsbeziehungen vor und zählt zum Beispiel die Anzahl tatwilliger Freunde bei einem vorgetäuschten Umzug. Die Erfolgsquote solcher Experimente liegt bei unter 0,05%, ist also niedriger als der Einsatz so genannter Unfriendly-Finders. Das wiederum sind kostenpflichtige Programme für User, die angesichts einer großen Freundschaftsliste den Überblick verloren haben und Löschungen ihrer FB-Freundschaften eruieren wollen.

Natürlich steht so verlassenen Menschen alternativ der Einkauf fingierter Freundschaften in Indonesien offen, wenngleich auch dieser Kunstgriff ist nicht vor Nachweisen gefeit ist. Doch unter dem Strich bleiben natürlich gewissen Zweifel im Raum, was das wirklich Edle an Facebookfreundschaften angeht.

Es gab schon vor Facebook ein "Jahrhundert der Freundschaft"1, nämlich das 18. mit seiner Vorliebe für Empfindsamkeit und Geselligkeit. Nun ist letztere in der modernen Welt kaum noch möglich, aber dass das nicht der Grund für den Niedergang empfindsamer Freundschaft ist, zeigt ein vergessenes Beispiel der Literaturgeschichte.

Es gibt kaum noch Untersuchungen zum Dichter Ewald Christian von Kleist (1715-1759), dem Großonkel von Heinrich von Kleist. Letzter hatte als Schriftsteller weit mehr Glück gehabt, Ewald aber musste aus Finanzgründen hauptberuflich als Offizier arbeiten. Als solcher lernte er auf dem Krankenbett eines Feldlazaretts Friedrich Ludwig Gleim (1719-1803) kennen. Der unterhielt ihn mit hauseigener Lyrik über den Tod so gut, dass Kleist vor Lachen ein Verband platzte. Dadurch wurde man noch rechtzeitig auf schon gärenden Wundbrand aufmerksam und aus Kleists Dankbarkeit Gleim gegenüber wurde Freundschaft.

Die aber ging nach der Versetzung Gleims berufsbedingt in eine relativ virtuelle Briefwechselbeziehung über. Deren Innigkeit mit Tausenden imaginärer Küsse und Umarmungen funktionierte trotz und gerade wegen der Unmöglichkeit realer Treffen wie Facebook before its best, trotz einer des höheren Mailanteils von Kleist, für den diese Brieffreundschaft Grundlage seines Lebensglücks war, bis tief in seine Träume hinein:

Ich denke […] beständig an Sie und stelle Sie mir so reizend vor als ein Verliebter seine entfernte Schöne. Schon zweimal habe ich von Ihnen geträumt. Ich wünsche mir fast beständig, zu schlafen, um Sie zu sehen. […] Im Schlafe aber gehe ich wirklich und lange mit Ihnen um. Wir spazieren zusammen am Ufer des Meeres, hören sein taubes Murmeln und sehen, wie es die blauen Wellen in sich schluckt. […] Wir gehen nach Hause, küssen uns, springen und lachen. Solche Vergnügen macht mir zuweilen der gütige Schlafgott. Wenn werden Sie aber meine Träume einmal zur Erfüllung bringen?

Kleist

Jeder Facebook-User kennt dazu passende Hintergrund-Bilder aus dem Netz, schöne Abendrot-Stimmungen vor Sprüchen versammelter Lebensweisheit. Kleist selber produzierte in Ermangelung von Facebook (bzw. in der Fülle vorhandener Zeit auf einem langweiligen Nebenkriegsschauplatz des Siebenjährigen Krieges) mehr als nur ein Sprüchlein. Er schrieb eine ganze Erzählung namens Die Freundschaft (1757).

Darin schilderte er die Geschichte zweier Freunde. Beide erleiden im Sturm Schiffbruch, können sich zwar zunächst auf eine Schiffsplanke retten, stehen damit aber vor einem ethischen Problem. Denn die Planke kann nur eine Person tragen2.

Wie zu erwarten, löst dieses Problem sehr emotionale Diskussion zwischen den Freunden aus, bis einer der beiden kurzentschlossen in Wasser springt.3 Kleist lässt jedoch ein Wunder geschehen und rettet beide Freunde vor dem Tod wie in einer schönen Soap:

Die Vorsehung / Die über alles wacht, sah seine Treu / Und seine Großmuth an, und ließ das Meer / Ihm nicht zum Grabe seyn. Mitleidig trugs / Auf seinen Wellen ihn zum Ufer hin.

Kleist

Diese Szene ist eine literarische Aufarbeitung eines klassischen rechtsphilosophischen Dilemmas, dem "Brett des Karneades" oder der Frage: Wer muss sich in solch einem Fall opfern?4 Für Kleist war die Antwort klar. An Gleim schrieb er:

Wissen Sie wohl, daß ich bei dem Selin in der Erzählung, die das Glück hat ihnen zu gefallen, an mich, und bei dem Leander an Sie gedacht habe? Und wissen Sie wohl, daß ich wie Selin handeln würde, wenn ich mit Ihnen auf einem Brett schwämme?

Kleist

Diese Vorstellung des heroisch-freundschaftlichen Opfertodes wird - auch das kennt man aus der FB-Korrespondenz - zur fixen Idee und dementsprechend oft an den Freund kommuniziert, der zu diesem Zeitpunkt in relativer Sicherheit als Domsekretär in Halberstadt weilt. Ein multifaktorielles Geschehen führt, wozu es führen musste, und Kleist wird wie erwartet 1759 schwer verwundet. Noch dazu wird er völlig ausgeraubt und verbringt eine Nacht nackt und bewegungsunfähig in einem Morast.

Nach seiner Rettung bleibt er nur noch wenige Tage am Leben, aber die verbringt er im Kreise von gelehrten Freunden, auch allesamt Brieffreunden, und vermeintlich in der Gewissheit, als Dichter anerkannt worden zu sein. Diese Freunde zelebrieren seinen Tod wie eine Naturkatastrophe, die Gottes Gerechtigkeit in der Welt in Frage stellt. Vor allem Gleim holt nun nach, was er Kleist in der Korrespondenz vorher an Anteilen schuldig geblieben war, und dichtet und gibt ein Gedächtnisbild in Auftrag mit der Allegorie der Freundschaft, einer Frauengestalt mit entblößter Brust, die am mit Schwert, Leier und Lorbeerkranz geschmückten Grab Kleists trauert.5

Und was weiß man davon heute noch? Fast nichts, vielleicht 0,05%, also so viel, wie man von den heutigen Facebook-Freundschaften wissen wird. Darin gleichen sich die Jahrhunderte. Edel sind hier wie dort die, die bei Umzügen oder Todesnot helfen, und glücklich die, denen geholfen wurde.