An der Schwelle zum neuen Krisenschub

Einstmals als neue Stütze der globalen Konjunktur umjubelt, befinden sich nun etliche Schwellenländer am Rande eines dramatischen Wirtschaftseinbruchs.

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Der türkische Ministerpräsident Erdogan gilt gemeinhin als großer Freund von Verschwörungstheorien. Die lang anhaltende Protestwelle, die Mitte des vergangenen Jahres das politische System der Türkei erschütterte, wurde von Erdogan auf eine Verschwörung von Verrätern“ und ausländischen Agitatoren zurückgeführt (Türkischer Regierungschef sieht hinter den Protesten ausländische Akteure). Es war folglich nur eine Frage der Zeit, bis der türkische Regierungschef eine Verschwörerclique auch für die gegenwärtigen wirtschaftlichen Verwerfungen verantwortlich machen würde. Diesmal sollen es ausländische Medien und Wirtschaftslobbygruppen gewesen sein, die die Turbulenzen in der Türkei ausgelöst hätten.

Tatsächlich sieht sich die Türkei mit einer dramatischen Währungsabwertung konfrontiert, die den kreditbefeuerten Boom der vergangenen Jahre beenden wird - und dem türkischen Regierungschef eine Suche nach Sündenböcken ratsam erscheinen lässt. Die türkische Lira hat binnen des vergangenen Jahres gegenüber dem US-Dollar rund 30 Prozent ihres Wertes eingebüßt, wobei die Wertverluste sich allein in den vergangenen zwei Monaten auf rund zehn Prozent summierten. Am Montag publizierte Inflationszahlen legen den Schluss nahe, dass die Abwertung der Lira auch weiter anhalten wird, da die Teuerungsrate in der Türkei sich weiter beschleunigt.

Die Währungsabwertungen in der Türkei wie in einem Großteil der sogenannten Schwellenländer“ werden durch den Staubsauger“der amerikanischen Geldpolitik ausgelöst, wie es der Chef der brasilianischen Notenbank, Alexandre Tombini, formulierte. Die US-Notenbank (Fed) bemüht sich schon seit einigen Monaten, den geldpolitischen Ausnahmezustand, der seit dem letzten Krisenschub 2007 herrschte, und die Gelddruckerei der vergangenen Jahre endlich zu beenden. Jahrelang hat die Fed allmonatlich umfassende Anleihekäufe getätigt, um mit dieser zusätzlichen Liquidität das angeschlagene Weltfinanzsystem zu stabilisieren und die Konjunktur zu beleben. Die Anleiheaufkäufe beliefen sich in den vergangenen zwei Jahren auf die Kleinigkeit von rund 85 Milliarden US-Dollar monatlich. Nun will der scheidende Fed-Chef Beranke die Aufkäufe - nach 75 Milliarden im Januar - auf 65 Milliarden im Februar reduzieren. Die Leitzinsen bleiben übrigens bis auf Weiteres auf ihrem historisch niedrigen Stand von nahezu null Prozent. Die in das Weltfinanzsystem gepumpte Liquidität, die den Boom in den Schwellenländern maßgeblich anheizte, soll nun langsam eingedämmt werden.

Dennoch reicht diese Reduzierung der allmonatlichen Gelddruckerei seitens der Fed bereits aus, um in einem Großteil der Schwellenländer, die bislang als künftige globale Konjunkturlokomotiven gefeiert wurden, mehr oder minder schwere Verwerfungen auszulöten. Neben der Türkei sind laut jüngst publizierten Studien hiervon unter anderem Südafrika, Argentinien, Indien, Indonesien, Ukraine, Malaysia und Brasilien bedroht. Betroffen sind Volkswirtschaften mit einem hohen Leistungsbilanzdefizit, niedrigen Devisenreserven und hoher Verschuldung, die in den vergangenen Jahren einen durch Kapitalzuflüsse befeuerten Boom,– eine sogenannte Defizitkonjunktur, – erfuhren. Durch die krisenbedingte Niedrigzinspolitik in den USA oder Europa waren Investitionen in den Schwellenländern - etwa im Immobiliensektor - aufgrund höherer Renditen besonders profitabel.

Schwellenländer in der Zwickmühle

Die enormen Kapitalzuflüsse, die ab 2007 die Grundlage des Booms in den Schwellenländern bildeten, versiegen nun in Antizipation steigender Zinsen in den Industriestaaten aber ebenso rasch. Allein in den ersten vier Wochen dieses Jahres sind aus den Aktienmärkten der Semiperipherie des Weltsystems rund 12 Milliarden US-Dollar abgezogen worden, während es im gesamten vergangenen Jahr circa 15 Milliarden waren. Auf Schwellenländer spezialisierte Finanzmarktfonds verzeichneten massive Verluste von neun Milliarden Dollar binnen der letzten Januarwoche, entsprechend ausgerichtete Investitionsfonds erfuhren sogar historisch beispiellose Kapitalabflüsse im Januar.

Die von dieser Krisendynamik erfassten Volkswirtschaften der Semiperipherie sehen sich nun in einer wirtschaftspolitischen Zwickmühle: Sie müssten die Zinsen massiv anheben, um die Abflüsse von Kapital zu stoppen, die sonst zu Währungsabwertungen und Schuldenkrisen führen. Die in Devisen aufgenommenen Kredite werden ja immer teurer. Zugleich droht eine radikale Zinserhöhung, wie sie etwa die türkische Notenbank in einem Akt der Verzweiflung vollführte, die einheimische Wirtschaft vollends abzuwürgen, eine Rezession wäre dann die Folge.