Nackte Weiber und so

Menschliche Nacktheit ist doch etwas ganz Natürliches, nicht wahr? Vor allem, wenn die nackte Person weiblich ist. Eine Polemik

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Auf Facebook kursierte letztes Jahr wieder mal was: nämlich ein Foto, das dort gar nicht kursieren dürfte. Dargestellt: Eine nackte Mutter mit ihren beiden ebenfalls nackten Kindern, die sich vor dem Spiegel ablichtet. Facebook hat das Bild der Fotografin Anastasia Chernyavsky zensiert, dafür wurde es nur umso eifriger verbreitet. Verlogen sei Facebook, urteilen die erzürnten Nutzer, wenn man "das Natürlichste auf der Welt", nämlich eine Mutter mit ihren Kindern, nicht mehr darstellen dürfe.

Gut, alle nackt. Aber so sind wir nun mal, wenn wir keine Kleider tragen. Und dass der stillenden Mutter noch Milch aus der Brust tropft, ist doch erst recht ein Zeichen für die Unverfälschtheit der Natur. Man kann viel Salbungsvolles lesen, wenn man sich die Kommentare zu dem beschriebenen Foto ansieht. Da wundert man sich direkt, dass nicht sofort alle Mütter aus den Kleidern springen, um sich mit ihren Sprösslingen abzulichten. Im Moment macht man sich damit nämlich richtig beliebt.

Natürlich nicht bei allen. Denn wie überall, so gibt es auch hier kritische Stimmen. Die üblichen Miesmacher wollen in der doch mehr als verständlichen Selbstdarstellung der stolzen Mutter eine Grenzüberschreitung erblicken. Die besteht weniger im Selbstporträt als in der Veröffentlichung der Nacktfotos ihrer Kinder. Das kleine Mädchen mag im Vorschul- oder frühen Grundschulalter sein. Aber von ihm gibt es bereits viele "künstlerisch wertvolle" Nacktbilder, die sich jedermann im Internet ansehen kann. Die Mutter ist nun einmal Fotografin und stellt ins Netz, was ihr vor die Linse kommt. Wie kleinlich von den Kritikern, oder? Einer Künstlerin, die nur das nackte Leben darstellt, eine gewollte oder ungewollte Nähe zu Kinderpornographie zu unterstellen! Dabei lernt das Kind hier doch fürs Leben. Mama ist auf Fotos ja auch ständig nackt.

Aber lassen wir das Kind beiseite - die Bilder nackter Kinder im Internet sind überaus problematisch, selbst, wenn es "nur" Schnappschüsse badender Babys sind: Ihr Recht auf Privatsphäre können diese jungen Menschen nicht einfordern. Nun gut, vielleicht ist auch das eine Lektion fürs Leben. Bleiben wir bei denen, die es wissen müssten, nämlich bei den Erwachsenen. Da gilt längst der Konsens: nackte Frauen sind schön. Nackte Frauen sind stark. Nackte Frauen sind stolz. Nackt zu sein ist ein weibliches Grundrecht. Deswegen protestieren Frauen neuerdings auch barbusig gegen die Unterdrückung von Frauen. Die ukrainische Gruppe "Femen" hat mit ihren Aktionen Weltruhm erlangt. Interessanterweise sehen die Mitglieder von "Femen" allesamt aus wie einem Modekatalog entsprungen: jung, blond, groß, schlank. Wo sind die barbusigen Frauen mittleren Alters, denen die Brust schon zum Nabel pendelt und die vielleicht keine Taille, dafür aber umso mehr menschliches Format haben? Ach so. Die machen sich nicht so gut in Presseberichten.

Bin ich verblendet? Hat mich meine katholische Erziehung zu einer duckmäuserischen, verklemmten Jutesack-Feministin gemacht, die anderen ihre Nacktheit nicht gönnt? Möglich. Aber ich habe eine kleine Faustregel, nach der ich Bilder von Frauen beurteile. Die erste Frage ist immer: Funktioniert dieses Foto auch noch, wenn nicht eine Frau, sondern ein Mann dargestellt wäre? Und die zweite lautet: Funktioniert dieses Foto auch noch, wenn die Frau auf dem Bild nicht den gängigen Schönheitsidealen entspräche und zum Beispiel übergewichtig und runzlig wäre?

Die erste Frage zielt nach der Gleichheit der Geschlechter. Die zweite nach der Gleichheit unter den Frauen. Machen wir den Test: Das Foto mit der nackten Mutter und ihren beiden nackten Kindern - rührt es uns auch, wenn es der nackte Vater ist, der sich mit seinen Sprösslingen porträtiert hat? Oder mischt sich da plötzlich ein seltsamer Beigeschmack ein? Und die zweite Frage: Wenn der Körper der Mutter, statt schlank und straff zu sein, deutliche Zeichen der Zeit zeigen würde, Schwangerschaftsstreifen z.B. oder eine entzündete Brust? Wäre das Bild dann immer noch "wunderschöner Ausdruck der Natur" (Krankheiten und Verfall gehören doch auch dazu)? Oder finden wir das Bild plötzlich aufdringlich und unpassend?

Ich glaube, diese beiden Fragen machen deutlich, dass menschliche Nacktheit eben doch nicht so völlig natürlich und selbstverständlich ist, wie in vielen Internetforen behauptet wird. Ein Blick auf unsere Gesellschaft genügt: Wir verhüllen uns. Der öffentliche Zustand des Menschen ist ein bekleideter. Wir können diese gesellschaftliche Konvention bedauern, wegdiskutieren können wir sie nicht. Daher mutet es mir sonderbar an, wenn uns Frauen immer wieder eingeredet wird, wir sollen doch ein natürliches Verhältnis zu unserem Körper entwickeln - und uns möglichst leicht- oder gar nicht bekleidet zeigen. Und tatsächlich entfaltet die kolportierte Natürlichkeits-Rhetorik ihre Wirkung: Immer mehr junge Frauen stellen sich nicht nur in erotischen Posen, sondern auch hüllenlos dem Auge der anonymen Öffentlichkeit, und das ganz freiwillig und ohne dafür bezahlt zu werden. Sind sie so selbstbewusst und frei, wie behauptet wird?

Gewiss, jeder soll mit seinem Körper und dessen Bild (!) so umgehen können, wie es ihm richtig erscheint. Aber solange es immer und ausschließlich die Frauen sind, die sich ausziehen, bleibt die Optik für mich schief. Sich zu entblößen hat immer auch mit Schutzlosigkeit und Ausgeliefertsein zu tun, daran ändern auch die Aktionen von "Femen" nichts. Statt den Frauen immer wieder ihr Recht auf "natürliche Nacktheit" einzutrichtern, sollte man sie deswegen an ihr Recht auf Kleidung erinnern, und zwar auf eine Kleidung, die ihren Körper nicht einzwängt, exponiert und in Formen presst, sondern auf eine Kleidung, in der sie sich wohlfühlen.

Männer haben das schon längst verstanden. Ein Mann, der sich nicht nackt zeigt, ist nicht verklemmt, sondern souverän. Wer also die allgegenwärtige weibliche (Halb-)Nacktheit als feministische Errungenschaft feiert, übersieht, dass dadurch eine echte Gleichberechtigung der Geschlechter nicht befördert, sondern im Gegenteil in Frage gestellt wird. Freilich - das ist eine unangenehme Wahrheit. Und die ist ja bekanntlich die einzige Nackte, die keiner sehen will.