Hartz-Reformen nicht für Exporterfolg verantwortlich

Anstatt die Hartz-Reformen zu übernehmen, sollten die europäischen Krisenstaaten lieber die Lohnverhandlungen auf die Betriebsebene verlagern, meinen Ökonomen

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Während die anscheinend staatlich gewünschte Gängelung von Arbeitslosen innerhalb des Hartz-Systems da und dort durchaus für Unmut sorgt, gilt es "ökonomisch" nach wie vor als Erfolgsmodell. So sei es hauptverantwortlich für den Exporterfolg Deutschlands, wie durchaus renommierte Ökonomen behaupten. Die Hartz-Reformen sollten, wie Angela Merkel gerne verlauten lässt, in die europäischen Krisenländer exportiert werden, wobei Hartz-IV-Erfinder Peter Hartz zuletzt sogar bei Francois Hollande im Elysée-Palast gesehen worden sein soll.

Während aber schon im Herbst Ökonomen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich nicht bestätigen wollten, dass die Arbeitsmarktreformen tatsächlich für den wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands verantwortlich sind (Deutsche Auslandsinvestoren haben bis zu 600 Milliarden Euro verzockt), erklären nun die Ökonomen Christian Dustmann, Bernd Fitzenberger, Uta Schönberg und Alexandra Spitz-Oener die Hartz-Reformen dahingehend für wirkungslos.

In ihrem aktuellen Paper "From Sick Man of Europe to Economic Superstar: Germany's Resurgent Economy", das in einer Kurzfassung auch bei dem Ökonomenportal VoxEU erschienen ist, machen sie die ökonomische Auferstehung Deutschlands wie die BIZ-Ökonomen an den relativen Lohnstückkosten fest. Diese stagnierten oder fielen in Deutschland diese seit den 1990er Jahren, während sie in den anderen EU-Staaten beträchtlich anstiegen waren. Dem "kranken Mann Europas" der 1990er Jahre brachte das zwischen 2005 und 2008 einen Rückgang der Arbeitslosigkeit um drei Millionen und sorgte im Rekordjahr 2011 für Exporte im Volumen von umgerechnet 1,7 Billionen Dollar, womit Deutschland mit kaum einem Prozent der Weltbevölkerung für 7,7 % der weltweiten Exporte verantwortlich zeichnete.

Diese relativen Lohnstückkosten hängen nun vom Wechselkurs, der Lohnhöhe und der Produktivität ab, wobei die Ökonomen als entscheidenden Faktor klar die Lohnhöhe identifizieren.

Die Wechselkurseffekte konnten es allein deshalb schon nicht gewesen sein, weil diese gegenüber den Handelspartnern in der Eurozone durch die gemeinsame Währung entfallen sind. Die Ökonomen ignorieren allerdings, dass Italien, Spanien und Frankreich etwaigen Wettbewerbsnachteilen traditionell wohl mit Währungsabwertungen begegnet wären. Aber auch die deutschen Produktivitätsfortschritte waren eher durchschnittlich, wobei gerade die heutigen Eurokrisenländer deutlich höhere Produktivitätsfortschritte erzielten, allerdings ausgehend von teilweise deutlich niedrigeren Niveaus.

Folglich bleibt nur die Lohnzurückhaltung, die in Deutschland von einem enormen Auseinanderdriften der Einkommen begleitet war. So stagnierten die niedrigen Einkommen seit 1990 und gingen ab 2000 real sogar zurück, während die höchsten Einkommen seit 1990 stetig anstiegen.

Bild: Dustmann, Fitzenberger, Schönberg, Spitz-Oener

In der Exportwirtschaft, wo die Löhne übrigens deutlich weniger stark zurückgingen wie in der restlichen Wirtschaft, überstieg das Produktivitätswachstum dennoch die Lohnsteigerungen, während die Exporteure zudem von den sinkenden Preisen ihrer Inputs profitierten, da die Löhne im Dienstleistungssektor von 1995 bis 2007 real sogar deutlich gefallen waren. Darüber hinaus nutzten die deutschen Exporteure auch mehr als ihre französischen oder italienischen Konkurrenten die neuen Produktionskapazitäten Osteuropas, deren Anteil an der deutschen Industrieproduktion von 14,5 Prozent im Jahr 1995 bis 2007 auf immerhin 21,5 Prozent angestiegen war.

Deutsche Gewerkschaften waren ausgesprochen flexibel

Diese billige Konkurrenz aus ex-kommunistischen Industrieländern wie Polen oder Tschechien machen die Ökonomen dann auch für die erstaunliche Zurückhaltung der deutschen Gewerkschaften verantwortlich. Deren institutionelle Struktur habe sich entgegen der Alltagsweisheit, wonach die deutschen Gewerkschaften übermäßig rigide seien, als ausgesprochen "flexibel" erwiesen. So ließen die Gewerkschaften Anfang der 1990er Jahre eine "beispiellose Dezentralisierung (Lokalisierung)" des Prozesses zu, mit dem über Lohnhöhe, Arbeitszeiten und andere Aspekte der Arbeitsbedingungen entschieden wird. Dieser wanderte von der Branchenebene auf die Ebene der einzelnen Unternehmens oder gar des einzelnen Arbeiters, was besonders die unteren Einkommen gesenkt habe.

Diese Umstellung sei wiederum nur deshalb so einfach möglich gewesen, weil das deutsche System nicht wie etwa in Frankreich oder Italien gesetzlich verankert ist und vom politischen Prozess auch nicht maßgeblich gesteuert wird, sondern auf Verträgen und Vereinbarungen zwischen Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und Betriebsräten basiert. Anders als etwa in den USA, wo ein Betriebsrat stets mit einer Gewerkschaft in Verbindung steht, ist dies in Deutschland nicht zwingend der Fall, weshalb Betriebsräte in Deutschland viel eher von der Gewerkschaftslinie abweichen könnten, sollte das Überleben des Unternehmens in Frage stehen oder dies auch nur behauptet werden.

Die Ökonomen beobachten in Deutschland nach 1995 jedenfalls eine "dramatische Abnahme" des Gewerkschaftseinflusses. Etwa sei von 1995 bis 2008 der Anteil der Beschäftigten in branchenweiten Tarifverträgen von 75 Prozent auf 56 Prozent zurückgegangen. Im Jahr 2010 unterlagen in Unternehmen mit mindestens zehn Mitarbeitern der verarbeitenden Industrie, im Bergbau und im Dienstleistungssektor 41 Prozent der Beschäftigten keinerlei kollektiven Lohnvereinbarungen mehr.

Warum Beschäftigte wie Gewerkschaften dies zuließen, erklären Ökonomen einerseits mit den enormen Lasten der Wiedervereinigung, die zwischen 1991 und 2003 Transferleistungen in der Höhe eines halben Bruttosozialprodukts erforderte. Das stabile Investitionsklima und die gut qualifizierten Arbeitskräfte der zentral- und osteuropäischen Staaten hätten zudem eine glaubwürdige Alternative zur Produktion in Deutschland geboten, obwohl diese Möglichkeit tatsächlich kaum genutzt wurde. So stiegen die deutschen Direktinvestitionen in Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei von 2000 bis 2008 nur von rund einem auf 2,3 Prozent des deutschen BIP, was wohl durchaus ein Erfolg der Lohnzurückhaltung gewesen sein dürfte.

Klar ist, dass die vereinigungsbedingt höheren Steuern und der verschärfte internationale Wettbewerb es für die deutsche Industrie zunehmend kostspielig machten, die höheren Gewerkschaftslöhne zu bezahlen. Die neuen Möglichkeiten, die Produktion ins Ausland zu verlagern und doch in der Nähe zu behalten, hatte aber das Gleichgewicht der Macht zugunsten der Industrieverbände verschoben, so dass Gewerkschaften und Betriebsräte zu Abweichungen von den Branchentarifen bereit waren, was eben auf niedrigere Löhne hinauslief.

Damit befand sich Deutschland jedoch in einer europaweit einzigartigen Situation und galt in den harten Jahren nach der Wiedervereinigung als "kranker Mann Europas". Die Bevölkerung wurde dadurch aber anscheinend gut auf die gravierende Einschnitte der 2000er Jahre vorbereitet, die zugunsten von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit erstmals seit dem 2. Weltkrieg zu einem dramatischen Ansteigen der Ungleichheit führten.

Veränderungen des Arbeitsmarktes in den 1990er Jahren haben den politischen Grundstein für die Hartz-Reformen gebildet

In Frankreich und Italien werden die Löhne hingegen weitgehend auf nationaler Ebene vereinbart und gelten dann für die gesamte Branche, egal ob ein Unternehmen die Gewerkschaftstarife explizit anerkennt oder nicht. Gleichzeitig blieb die Bindung an Tarifverträge, die in den vergangenen dreißig Jahren in Frankreich stabil für 90 und in Italien für 80 Prozent der Beschäftigten galten, was offenbar nicht die für einen Exporterfolg erforderliche Flexibilität gewährleisten konnte. So werden viele Regelungen, die in Deutschland auf Arbeitsverträgen beruhen, entweder überhaupt gesetzlich festgelegt oder landesweit für alle Unternehmen verbindlich vereinbart. Um die "Flexibilität" der kollektiven Vereinbarungen zu erhöhen, wären in diesen Ländern also politische Reformen auf nationaler Ebene erforderlich, die bislang offenbar nicht zu erreichen waren.

In Deutschland hatte dieser Prozess hingegen bereits zehn Jahre vor der Implementierung der Hartz-Reformen begonnen, wobei es den Autoren plausibel erscheint, dass diese Veränderungen des Arbeitsmarkts erst den politischen Grundstein für die Hartz-Reformen gelegt haben. Diese trugen den Autoren zufolge dann zwar zum jüngsten Rückgang der Langzeitarbeitslosigkeit und zur weiter steigenden Einkommens-Ungleichheit bei, einen relevanten Beitrag zum enormen Anstieg der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands oder auch zur erstaunlichen Krisenresistenz der Beschäftigung nach dem Subprime-Crash konnten die Ökonomen hingegen nicht entdecken.

Wenn die europäischen Krisenländer also etwas von Deutschland übernehmen wollten, sollten das jedenfalls nicht die Hartz-Reformen sein. Viel mehr empfehlen die Ökonomen Reformen, die die Verhandlungen zwischen Arbeit und Unternehmen dezentralisieren, d.h. auf die Unternehmensebene verlagern, wobei die starken Gewerkschaften aber involviert bleiben sollten, damit die Arbeiter auch an Aufschwüngen beteiligt werden. Angesichts der anschwellenden Kritik an der steigenden Ungleichheit, den zuletzt höheren Lohnabschlüssen und der geplanten Einführung eines Mindestlohns sehen die Autoren diesen Prozess in Deutschland aber ohnehin an Schwung zu verlieren. Würde dies tatsächlich geschehen, dann sollte Deutschland künftigen ökonomischen Herausforderungen also besser mit Produktivitätssteigerungen begegnen, die die Lohnsteigerungen übertreffen - wodurch nicht zuletzt auch die bislang so sehr mangelnde Konvergenz der Wettbewerbsfähigkeit in der Eurozone gefördert würde.