Zurück in die Zukunft

Armen Avanessian über Akzelerationismus

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Der bekannte schottische Science-Fiction-Autor Charlie Stross meinte unlängst, Akzelerationismus und Neo-Reaktion seien die beiden wichtigsten Utopien in der aktuellen SF. Auch außerhalb des Literaturgenres gewinnt der Akzelerationismus an Aufmerksamkeit: Im Merve-Verlag erschien im Dezember der Sammelband #Akzeleration. Herausgegeben wurde er von Armen Avanessian, einem Philosophen an der Freien Universität Berlin. Telepolis fragte ihn nach einigen Begriffen und Formulierungen aus diesem Buch.

Herr Avanessian, wie beschleunigt man den Kapitalismus "über die Beschränkung der kapitalistischen Wertschöpfung hinaus"? Und warum sollte man das tun?

Armen Avanessian: Warum man das tun sollte, ist doch eigentlich ganz offensichtlich: 'Der' Kapitalismus, wie auch immer man ihn jetzt im Detail definiert, steckt besonders in seiner neoliberalen Ausprägung in einer radikalen Krise. Er hält seine Versprechen nicht ein, löst die Probleme nicht, von denen er vorgibt, sie als einziger lösen zu können. Und mehr noch: Er schafft immer mehr katastrophale Probleme.

Damit verbunden: Es herrscht oder herrschte ja lange Zeit die Ideologie, dass Progressivität, Fortschritt und eben Beschleunigung Alleinstellungsmerkmale des Kapitalismus seien, dass also Fortschritt nur im und mit dem Kapitalismus zu haben sei.

All diese ideologischen Ausschließungen von möglichen Alternativen (oder mehr noch: dass Alternativen denkunmöglich gemacht wurden) beruhten und beruhen ja auf der impliziten oder expliziten Annahme, dass einzig der Kapitalismus wirklich produktiv und beschleunigend ist - und dass die Aufgabe der Politik nur sein könne, ab und an hier und da leichte Korrekturen vorzunehmen, um eventuelle Auswüchse abzumildern (die aber keineswegs systemimmanent seien).

Und zuletzt: Auch da wo der Kapitalismus oder Neoliberalismus vehement kritisiert wurde, selbst da also blieb ein Dogma eigentlich unangetastet. Nämlich, dass Beschleunigung aufseiten des Kapitalismus zu finden sei (und nur dort!) - und dass es einer linken Politik dann 'logischerweise' um Entschleunigung gehen müsse.

Was ist der Unterschied zwischen katastrophischer und epistemischer Beschleunigung?

Armen Avanessian: Zunächst mal zum katastrophischen, oder 'apokalyptischen', mit dem akzelerationistisches Denken (oder 'der Akzelerationismus') im Feuilleton (aber auch in den diversen politiktheoretischen Diskussionen) gerne vermischt oder identifiziert wird:

Frühere Spielarten des Akzelerationismus - sagen wir in den 1970er Jahren (etwa bei Deleuze und Guattari oder Lyotards Libidinöse Ökonomie) spielen oder liebäugeln tatsächlich mit apokalyptischen Denkmodellen. In den 80/90er Jahren (etwa bei Nick Land, von dem wir uns heute explizit abgrenzen) gibt es dann eine Faszination mit Geschwindigkeit, als ob diese ein Wert an sich sei.

Für mich heute sieht die Sache anders aus:

Aus mehreren Gründen kann es nicht darum gehen, eine politique du pire zu verfolgen. Erstens: Es kann nicht Interesse der Linken sein, die ohnedies schon prekären Zustände so zuzuspitzen, bis das allgemeine Elend einen Grad erreicht hat, der notwendig zu einer politischen Explosion führen würde. Zweitens: Es ist auch so eine Art negativ-hegelianisches Geschichtsbild nicht mehr glaubhaft - also, dass die Zuspitzung der extremen Widersprüche des Kapitalismus im Neoliberalismus automatisch zu einem Systembruch führen würde.

Stattdessen muss man Beschleunigung von reinem, sinnfreiem oder sinnlosem, und letztlich richtungslosem 'Speed' unterscheiden. Es geht um eine (auch gesellschaftlich) positive Dynamik von Bewegung, Beschleunigung eben. Und es geht darum, den an und für sich positiven Terminus 'Beschleunigung' von seiner in der Linken inzwischen fast völlig pejorativen Bedeutung zu lösen.

Noch ein Wort zur Katastrophe und Apokalypse. Das ist sehr wichtig: Wenn schon Apokalypse, dann kann man das ja auch ernst nehmen - und zwar durchaus im etymologischen Sinn des Wortes, als Zeitenwende! Was bedeutet das? Ich würde sagen, der zentrale Hintergrund des neuen akzelerationistischen Denkens ist eine Philosophie des spekulativen Realismus.

Eine der zentralen philosophischen oder spekulativen Ideen über Zeit scheint mir von Quentin Meillassoux (aber auch von Ray Brassier und in meinen eigenen philosophischen Texten formuliert: Muss die Zeit denn chronologisch verlaufend gedacht werden?

Was wäre, wenn wir das einmal umdrehen und zum Beispiel von der Zukunft zurück auf jene Vergangenheit blicken, die unsere Gegenwart ist. Vielleicht müssen wir also in politischen Angelegenheiten apokalyptisch denken - aber eben nicht katastrophisch, sondern im Sinne einer Wende der Zeitrichtung, um (von einer von uns imaginierten, erwünschten, tatsächlich erstrebenswerten Zukunft aus) jetzt, also in der Gegenwart, anders handeln zu können.

Nun aber zur Frage nach einer epidemischen Akzeleration: ‚Kapitalismus’ ist ein immens abstrakter Gegenstand oder ein abstraktes Objekt. Das heißt, die Art und Weise seines Funktionierens und seiner Wirkung auf unser Leben ist von einer solchen Komplexität, dass es dessen bedarf, was wir epistemische Akzeleration nennen. Will 'Politik' nicht einfach nur gouvernementale Administration sein, sondern tatsächlich politisch, und will die Linke tatsächlich Fortschritt erzielen, dann muss sie einfach auf die Höhe des wissenschaftlichen, technologischen und medialen status quo kommen.

Was uns fehlt, ist so etwas wie ein cognitive mapping, eine kognitive Karte der gegenwärtigen Verhältnisse: Wie also zum Beispiel Technologie, politische Administration, Finanzwissenschaft zusammenhängen beziehungsweise verfilzt sind. Nur auf dieser Basis einer auch epistemischen Beschleunigung kann Veränderung im positiven Sinn möglich sein. Es geht ja um 'Zukunft'.

Was ist "neo-primitivistischer und folkloristischer Lokalismus"? Kitsch, der mit Politik verwechselt wird?

Armen Avanessian: Na ja - wir sehen das ja als fast schon massenhaftes Phänomen einer noch halbwegs gut situierten middle class, die angesichts der tatsächlichen Katastrophenzustände (nicht nur politisch, sondern auch klimapolitisch etc.) glaubt, mit individualistischen Nischenkonstruktionen Auswege sichern zu können. Da gibt es ja auch viel Spott über den Bio-Kult, der bei einigen ja fast schon New-Age-hafte Glaubensdimension annimmt.

Das fundamentale politische und politiktheoretische Problem ist, dass wir den tatsächlich globalen Problemen auf einer lokalen Ebene nicht begegnen können, und dass ein kleines Stück Garten mit selbst angebautem Gemüse im Brandenburgischen nicht die Lösung sein kann, sondern eher Kitsch ist und ein falsches gutes Gewissen für ein tatsächlich regressives Handeln bedeutet. Wir können unsere Probleme heute nicht mehr lokal lösen. Der Kapitalismus ist ein viel zu abstraktes Phänomen, aus dem es keine kleinen grünen Auswege gibt, die es uns erlauben würden, weiterhin ins Sachen Technologie und Wissenschaft und Finanzökonomie Analphabeten zu bleiben

Armen Avanessian

Welche Rolle spielt die Science Fiction für den Akzelerationismus?

Armen Avanessian: Zur SF kann ich vielleicht auf Obiges rekurrieren: Wenn es für den Akzelerationismus darum geht, im emphatischen Sinn Zukunft wieder ins Spiel zu bringen, Zukunft wieder denkbar zu machen, dann habe ich das mit einem Moment politischer Imaginationskraft in Verbindung gebracht. Aber dass wir einen anderen Umgang mit science brauchen, einen imaginativeren und apolitisch progressiven, beschleunigenden, das würde ich auch so sehen.

Insgesamt sehe ich zudem eine enge Verwandtschaft zwischen der schon angesprochenen neuen spekulativen Philosophie (deren rationalistische oder quasi prometheische Variante für die Herausbildung des aktuellen Akzelerationismus prägend ist) und Science Fiction. Nicht ohne Grund habe ich Ende letzten Jahres den Band Abyssus Intellectualis - spekulativer Horror herausgegeben, der sich genau der Frage widmet, wie denn literarischer Horror und philosophisches (aber auch politisches) Denken der Gegenwart zusammenhängen. Einer der zentralen Überschneidungspunkte ist sicher die von mir oben schon angerissene spekulative Temporalität.

Zudem: Wenn wir nicht radikal gegensteuern und dem stupiden neoliberalen Geschwindigkeitswahn weiter flogen, dann steigen tatsächlich die Chancen einer Horror-Welt ohne Menschen. Eine Welt ohne Menschen zu denken, das Ende unseres Denkens zu denken, das sind ja nicht einfach nur verquaste akademische Gedankenspiele, sondern es gibt konkreten Anlass für solche Fragestellungen - was (denke ich) auch mit ein Grund für das doch enorme Interesse sowohl für Akzelerationismus als auch für die neue spekulative Philosophie ist, die ja beide erst relativ junge Phänomene sind

Wie weit ist das von Nick Srnicek und Alex Williams geplante akzelerationistische Äquivalent zur Mont Pelerin Society?

Armen Avanessian: Schön wär's wenn wir ein (ich glaub inzwischen tausendköpfiges) Komitee und ausreichende Finanzierung für regelmäßige Treffen hätten. Da sollte es doch eigentlich ein Interesse geben, ein kollektiveres Nachdenken zu ermöglichen ...

Noch einmal zum Neoliberalismus, den sie ja voraussetzen: Haben wir seit 2008 nicht eher einen Neokeynesianismus? Oder ein System aus Neokeynesianismus und Neoliberalismus, in dem auf Staatsschulden Privatisierungen folgen?

Armen Avanessian: Neoliberalismus ist mehr als das gegenwärtige hegemoniale Modell, in dem unsere Politiker leider denken, sondern hat auch ganz konkrete Auswirkungen auf unser aller Handeln. In diesem Sinne ist auch neokeynesianisches Gegensteuern kein Austreten.

Aber ich spreche auch nicht als Ökonom (da ist Nick Srnicek sicher die bessere Auskunftsperson), sondern nur generell aus Sicht des Akzelerationismus: Jenseits der Frage, wie versucht wird, die 2007er Krise zu kaschieren oder zu überspielen - aus Sicht des Akzelerationismus offenbart sie ein Scheitern.

Unser seit Jahrzehnten eingeübter und speziell seit den späten 1980er Jahren immer triumphaler oder selbstbewusster auftretender Kapitalismus ist am Ende. Ich denke aber, dass es nicht notwendig ist, deswegen jeden Gedanken an Fortschritt, Beschleunigung et cetera als naive Utopie abzutun, als ob es nur Minimierung des Katastrophalen gäbe. Stattdessen müssen wir uns unsere Zukunft wieder erarbeiten, erfinden und erdenken. Das heißt auch selbstbewusst darauf aufmerksam zu machen, dass eine progressive Beschleunigung möglich ist. Akzelerationismus eben.

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