Parlamente als Abnickvereine

Eine Demokratie haben wir schon lange nicht mehr - Teil 12

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Die Parlamente haben einen einzigen Zweck: Sie müssen die Entscheidungen der Regierung abnicken. Sonst gar nichts. Parlamente in den entwickelten repräsentativen Demokratien sind Abnickvereine. Für etwas anderes sind sie gar nicht da. Dafür allerdings kosten sie einen Haufen Geld. Das könnte man billiger haben.

Als auf dem Höhepunkt der Euro-Staatsschuldenkrise 2011 Entscheidungen über die Verwendung von vielen Milliarden Euro im Wesentlichen in Zweiergesprächen zwischen der deutschen Bundeskanzlerin und dem französischen Staatspräsidenten getroffen wurden, beschwerten sich sogar einige Bundestagsabgeordnete der Regierungsfraktion darüber, dass der Bundestag nur noch dazu diente, diese Entscheidungen ergeben "abzunicken".

Selbst der Vizepräsident des Bundestags meinte in einem Interview1:

Da werden die Abgeordneten, übrigens auch die eigenen der Koalition, zunehmend als Abnickverein betrachtet.

Und der Präsident des Bundestags hatte sich schon mehrfach zuvor im gleichen Sinne geäußert. Während der Eurokrise empfanden viele Beobachter die geradezu vollständige Unterminierung der Haushaltshoheit des Bundestags als besonders dramatisch. Merkel und Sarkozy beschlossen Ausgaben in Höhe von weit über hundert Milliarden Euro, ohne das Parlament wenigstens auch nur pro forma einzuschalten.

Scheindebatten mit strenger Rollenverteilung

Doch die Konstruktion der repräsentativen Parteiendemokratie lässt überhaupt nichts anderes zu: Würde das Parlament Beschlüsse mit der Regierungsmehrheit am Ende nicht abnicken, wäre der Zusammenbruch der Regierung die unvermeidliche Folge. Also haben die Fraktionen der Regierung sie abgenickt und nicken weiter alles ab, was man ihnen vor die Füße wirft.

Ihre Mitglieder und die Opposition dürfen allenfalls darüber ein bisschen diskutieren - aber schon die Mitglieder der Regierungsfraktionen werden das nicht gar zu kritisch tun. Schließlich könnten sie auch dadurch den bloßen Schein der klaren Regierungsmehrheit trüben. Und die Opposition kann reden, was sie mag. Sie hat sowieso keinen Einfluss auf die Entscheidungen und darf nur meckern. Mit der Bildung der Großen Koalition ist das alles nur sehr viel schlimmer geworden, aber schlimm war es schon lange davor.

So oder so ist der Deutsche Bundestag wie jedes andere Parlament auch ein Abnickverein - und das schon seit sehr vielen Jahren. Das ist keine Entwicklung, die sich erst in den letzten Jahren Bahn gebrochen hat.

Mitunter hält sich in der Bevölkerung noch die Illusion, wenigstens in den großen Plenardebatten werde in offener Kontroverse um die beste Lösung gerungen. Doch die Debatte über die Eurokrise im September 2011 hat auch unkritischen Beobachtern diese Illusion geraubt.

Da wird in aller Form eine Scheindebatte mit strikter Rollenverteilung inszeniert, in der jedes Detail von den Fraktionsvorständen im Vorhinein festgelegt ist. Die Fraktionsvorstände bestimmen ohnehin bei jeder Plenardebatte, wer wie lange sprechen darf oder soll und wer gefälligst seinen Mund zu halten hat.

Konkret wird den Fraktionen bei Plenardebatten ein Kontingent an Redezeit zugewiesen. Die Fraktionsvorstände vergeben diese Zeit an ihre Abgeordneten. Die ach so freien Parlamentarier selbst haben das nicht zu entscheiden. Die haben überhaupt nichts zu sagen, was man ihnen vorher nicht ausdrücklich erlaubt hat.

Von einer offenen und freien Debatte, in der die Abgeordneten von ihrem Gewissen getrieben ans Rednerpult drängen, kann überhaupt keine Rede sein. Die hat es im Bundestag nie gegeben.

Kasperltheater statt offener Debatte freier Parlamentarier

Tatsächlich findet dort ein von vorne bis hinten durchgeplantes, durchorganisiertes und durchinszeniertes Kasperltheater statt, in dessen Drehbuch bis ins letzte Detail festgelegt ist, wer wann was und wie lange darf und auch, wer die Klappe zu halten hat.

Wie festgefahren diese Praxis schon seit Jahren ist, wurde deutlich in der Debatte über den Euro-Rettungsschirm vom September 2011. Da gab es in der FDP und in der CDU eine Reihe von Abgeordneten, die gegen die Zustimmung der Regierungsfraktionen waren und sich in der Debatte zu diesem Thema äußern wollten. Und der Bundestagspräsident Norbert Lammert besaß tatsächlich die ungeheure Frechheit, zweien dieser Abgeordneten eine Redeerlaubnis zu erteilen und so die kalkulierte Inszenierung zu unterlaufen.

Kleinkarierte Inszenierung der Debatten

Allerdings handelte er sich damit heftigen Ärger aus seiner eigenen Partei, der CDU, ein. Seine Entscheidung, zwei "Abweichler" aus den Koalitionsfraktionen reden zu lassen, sei rechtlich höchst zweifelhaft und das Vorgehen sei außerdem noch nicht einmal mit dem Ältestenrat abgestimmt gewesen, hieß es. Was für eine Unverschämtheit. Da durften zwei Parlamentarier einfach ohne Erlaubnis von oben drei Minuten lang reden.

Der Geschäftsordnungsausschuss des Bundestags prüfte gar die Rechtmäßigkeit von Lammerts Vorgehen, um ihn disziplinarisch zu maßregeln. Die Fraktionschefs protestierten, und der Ältestenrat erteilte Lammert eine Rüge. So viel zum Thema Redefreiheit für freie Abgeordnete, die nur ihrem Gewissen verantwortlich sind.

Tatsächlich hatte Lammert den Abgeordneten Frank Schäffler (FDP) und Klaus-Peter Willsch (CDU), die beim Thema Euro-Rettungsschirm anderer Meinung waren als die Mehrheit ihrer Fraktionskollegen, Redezeit im Plenum zur Verfügung gestellt. Ihre eigenen Fraktionen hatten sich zuvor nämlich geweigert, sie auf die Rednerlisten setzen. Die hatten den beiden ihren Maulkorb schon vorher umgehängt.

Lammert berief sich in seiner Entscheidung auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1989. Das hatte sich allerdings auf einen fraktionslosen Abgeordneten bezogen, der aus eigenen freien Stücken vor dem Plenum reden wollte und das erst durfte, nachdem das Verfassungsgericht ihm seinen Segen erteilt hatte. Ob das Rederecht also überhaupt auch für Fraktionsabgeordnete gilt, ist danach durchaus noch immer zweifelhaft.

Die Rechtslage ist in diesem Zusammenhang jedoch politisch nicht von Belang. Von Belang ist aber, dass die Fraktionsführungen sich mit Zähnen und Klauen dagegen wehren, wenn jemand auch nur den Versuch unternimmt, ihre Debatteninszenierung zu durchkreuzen, indem er ohne Erlaubnis eine kurze Rede hält.

Doch tatsächlich passen derart kleinkarierte Rederestriktionen für Bundestagsabgeordnete so ganz und gar nicht zu den überlieferten Idealen von Demokratie, Gewissensfreiheit und parlamentarischer Debattenkultur.

Lediglich aus den Reihen der Opposition kamen vereinzelte und auch eher zaghafte Stimmen, die den Bundestagspräsidenten unterstützten. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) erklärte gar in der "Frankfurter Rundschau", auch Minderheitsmeinungen müssten im Parlament zu Wort kommen dürfen. Wenn ein hoher parlamentarischer Würdenträger sich genötigt sieht, so etwas öffentlich zu sagen, zeigt das doch nur, dass im Bundestag noch nicht einmal Minderheitsmeinungen eine Chance haben, zu Wort zu kommen. Ja, wo denn sonst?

Das muss man sich in aller Deutlichkeit vor Augen führen: Die Debatten-Unkultur im Deutschen Bundestag ist bereits so weit heruntergekommen, dass ein Funktionsträger sich veranlasst sieht, leidenschaftlich dafür zu plädieren, auch Minderheitsmeinungen - wie geschehen - wenigstens für fünf Minuten und keine Minute länger Gehör zu verschaffen.

Als ob das im Parlament, der Stätte von freien und offenen politischen Debatten, nicht eine demokratische Selbstverständlichkeit sein sollte. Kann ein Parlament überhaupt noch tiefer sinken?

In Deutschland war die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung gegen den Rettungsschirm für den Euro und die damit verbundenen ökonomischen Risiken.2 Und im Bundestag wird die Plenardebatte über dieses Thema so stranguliert, dass sich Empörung darüber breitmacht, wenn ein Bundestagspräsident zwei "Abweichlern" - die immerhin die Meinung der Bevölkerungsmehrheit artikulieren - je fünf Minuten Redezeit einräumt.

Einmal abgesehen davon, dass die ja nur reden, ohne etwas bewirken zu können, weil die Entscheidungen längst feststehen: Kann noch deutlicher demonstriert werden, dass sich das Parlament längst von der Bevölkerung, die es angeblich repräsentiert, völlig abgekoppelt hat? Diejenigen, die wenigstens noch die Meinung der Bevölkerungsmehrheit vertreten, gelten im Bundestags-Neusprech inzwischen als "Abweichler". Und diejenigen, die von der Mehrheit der Bevölkerung abweichen, sind die Mehrheit.

Und als ob diese eklatante Manifestation von Demokratiefeindlichkeit nicht schon peinlich genug wäre: Für die Fraktionen von CDU, CSU, FDP und SPD war die missglückte Debatteninszenierung ein willkommener Anlass für einen Vorstoß, das ohnehin beschränkte Rederecht der Abgeordneten noch stärker einzuschränken. Fortan sollten "Abweichler" nur noch in seltenen Ausnahmefällen reden dürfen.

Wer reden darf, sollten allein die Fraktionen entscheiden. Der Parlamentspräsident sollte verpflichtet werden, das Wort nur noch den von der Fraktion eingeteilten Rednern zu erteilen. Und er sollte allen Fraktionen nicht nur die geplante Worterteilung, "sondern auch die konkrete Platzierung in der Rednerfolge" mitteilen. Andere Abgeordnete sollte er nur ausnahmsweise und auf gar keinen Fall länger als drei Minuten lang reden lassen - und auch dies nur "im Benehmen mit den Fraktionen".

Dieser Beschlussempfehlung der vier Fraktionen widersetzte sich allerdings der Bundestagspräsident mit dem Argument, man dürfe gewählte Abgeordnete nicht zum Schweigen bringen.

Eine öffentliche Diskussion über das Thema "Maulkorb für Abgeordnete" war den tapferen Fraktionseinpeitschern denn doch zu riskant. Flugs distanzierten sich selbst jene Politiker von der Empfehlung, die sie selbst mit herbeigeführt hatten, und die Fraktionen verzichteten darauf, sie durchzusetzen.

Damit allerdings folgten die Fraktionsspitzen dem äußeren Druck und nicht dem eigenen Triebe. Und es steht zu befürchten, dass sie es bei der nächsten Gelegenheit wieder versuchen werden. Jetzt erst einmal haben sie sowieso Ruhe in der Kiste. Mit der großen Koalition ist aller Widerspruch im Keim erstickt.

Nur die Bündnis/Grünen und Die Linke dürfen ein paar Minuten lang Kurzsprech absondern. Und auf die hört im Bundestag sowieso keiner. Und im breiten Publikum vor den Fernsehgeräten hat kaum einer die Zeit und die Lust, das stundenlange Palaver der Koalitionäre anzuhören, um dann zwischendrein ein paar Minuten Opposition zu erhaschen.

"Neusprech" war nach George Orwell wenigstens noch eine vom herrschenden Regime vorgeschriebene, künstlich veränderte Sprache, die den Zweck hatte, die Anzahl und das Bedeutungsspektrum der Wörter zu verringern, um "Gedankenverbrechen" unmöglich zu machen. Das Bundestags-Neusprech von heute ist noch nicht einmal eine künstlich geschaffene Sprache. Es ist Bundestags-Originalsprech. Die Welt der entwickelten repräsentativen Demokratien steht längst auf dem Kopf.

Der Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele erklärte in der "Mitteldeutschen Zeitung":

Ich habe zehn Jahre lang versucht, Rederecht zu Afghanistan zu bekommen. Das ist mir bis heute nicht gewährt worden.

In den Beiträgen über Afghanistan sagten praktische alle Redner sowieso das Gleiche wie alle anderen - nur mit anderen Worten. Jeder wisse, dass es abweichende Auffassungen gebe, auch bei den Grünen.

Aber die kommen einfach nicht zu Wort. Es wäre interessanter, wenn man die auch reden lässt.

Es wäre ohne jeden Zweifel interessanter, aber darum geht es ja nicht. Niemand in den Führungsgremien der politischen Parteien im Bundestag hat das geringste Interesse daran, interessante und womöglich kontroverse innerfraktionelle Debatten zu fördern.

Kontroversen sind ausschließlich zwischen den Fraktionen erwünscht. Und da geht es um den Nachweis, dass die eigene Fraktion Recht und die anderen Fraktionen Unrecht haben. Sonst gar nichts.

Und wenn diejenigen, die sich dem Fraktionszwang beugten, wenigstens gewusst hätten, worüber sie abstimmen. Viele hatte keine Ahnung, worum es überhaupt im Einzelnen ging. Sie folgten gehorsam und blind den Anweisungen ihrer Fraktionsführung. Das TV-Magazin "Panorama" befragte am 29. September 2011 einzelne Abgeordnete über Details der Erweiterung des Euro-Rettungsschirms, dem sie am nächsten Tag mit großer Mehrheit zustimmen wollten.