Sterbehilfe: Option für Wohlhabende und Gebildete

Nach einer vergleichenden Studie in der Schweiz greifen auch Städter, Frauen und Alleinlebende eher zum assistierten Suizid, wie er von Schweizer Sterbehilfeorganisationen angeboten wird

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In der Schweiz ist Sterbehilfe in der Form des assistierten Suizids oder Freitodbegleitung legitim, wenn keine egoistischen Motive beteiligt sind. Die Rolle der Mediziner beschränkt sich auf die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit der Sterbewilligen und die Verschreibung der tödlichen Droge. Erforderlich ist nicht, dass eine unheilbare Krankheit vorliegt.

Organisationen wie Dignitas oder Exit bieten "im Fall von ärztlich diagnostizierten hoffnungslosen oder unheilbaren Krankheiten, unerträglichen Schmerzen oder unzumutbaren Behinderungen … die Möglichkeit eines begleiteten Freitods an". Kritiker wenden gerne ein, dass Menschen, die benachteiligt oder schwach sind, zum assistierten Freitod gedrängt werden könnten. Schweizer Wissenschaftler von der Universität Bern haben nun untersucht, ob dies in der Schweiz in der Tat so beobachtet werden kann und kamen dabei auf interessante Ergebnisse.

Für ihre Studie (doi: 10.1093/ije/dyu010), die im International Journal of Epidemiology erschienen ist, haben Daten von drei Sterbehilfeorganisationen (Exit Deutsche Schweiz, Exit Suisse Romande, Dignitas) über 1.301 anonymisierte Fälle des assistierten Suizid zwischen 2003 und 2008 mit den Daten einer nationalen Erhebung verglichen.

In dieser Erhebung wurden mehr als 5 Millionen Menschen zwischen 25 und 94 Jahren vom 1. Januar 2003 bis zu ihrem Tod, ihrer Auswanderung oder dem Ende des Untersuchungszeitraums im Jahr 2008 nachverfolgt. Es lagen Zahlen zu Geschlecht, Alter, Religionszugehörigkeit, Bildung, Haushalt, sozio-ökonomischer Schicht etc. vor. Aus dem Vergleich der Zahlen lässt sich abschätzen, dass 4,5 Personen unter 100.000 zur Sterbehilfe greifen.

Bei 84 Prozent der Sterbehilfefälle gab es einen gesundheitlichen Grund, meist eine Krebserkrankung (über 40 Prozent). Eine Schädigung des Nervensystems (Multiple Sklerose, ALS, Parkinson) folgt als nächsthäufige Erkrankung. Bei nur 2,8 Prozent der 20-64-Jährigen (11 Personen) war es eine Gemütsstörung und bei 0,8 Prozent (3 Personen) eine andere psychische Verhaltensstörung. Bei den Über-65-Jährigen waren es 4,5 Prozent bzw. 0,9 Prozent. Wenig erstaunlich lag das Alter der Meisten über 65 Jahren. Mit dem Alter steigt die Zahl der Menschen, die Sterbehilfe in Anspruch nahmen.

Höher Gebildete nehmen eher Sterbehilfe in Anspruch als Menschen nur mit Hauptschulabschluss, am ehesten die Menschen mit einem Hochschulabschluss, Frauen eher als Männer, Alleinlebende, in Institutionen Lebende oder Geschiedene eher als Zusammenlebende, Religionslose eher als Katholiken und Protestanten sowie Menschen aus wohlhabenderen Wohngegenden, je wohlhabender desto eher. Bei den Unter-64-Jährigen greifen weniger zur Sterbehilfe, die Kinder haben. Aber in höherem Alter lässt sich kein Unterschied mehr zu den Kinderlosen feststellen. Die Menschen in den Städten neigen eher zur Sterbehilfe.

Die Wissenschaftler schließen aus den Ergebnissen, dass die Kritiker nicht Recht haben, wenn sie vor einem Dammbruch warnen, weil zur Sterbehilfe vermehrt Menschen mit höherer Bildung und aus wohlhabenderen Wohngegenden neigen. Es dürfte aber eine Ungleichheit im Zugang geben. Zwar ist die Sterbehilfe für Mitglieder der Organisationen kostenlos, sie müssen aber einen jährlichen Mitgliederbeitrag zahlen, bei EXIT.ch beträgt dieser 45 Franken. Nichtmitglieder müssen hier einen höheren, einmaligen Beitrag von 900 Franken zahlen. Das sind wahrlich keine großen Summen, aber sie dürften eine kleine Schwelle ausmachen.

Besonders der katholische Glaube schütze vor Suizid und assistiertem Suizid, möglicherweise weil die soziale Integration höher oder die dogmatische Ablehnung stärker ist. Allerdings liefern, so die Wissenschaftler, Isolation und Einsamkeit bei den Alleinlebenden und Geschiedenen stärkere Gründe für den Suizid.

In 16 Prozent der Sterbehilfefälle wurde in der Sterbeurkunde keine zugrundeliegende Ursache genannt, obgleich die Organisationen sagen, sie würden nur denjenigen Hilfe gewähren, die an unheilbaren Krankheiten, nicht auszuhaltenden Schmerzen oder schweren Behinderungen leiden. Es könnte sein, dass die Zahl der Lebensmüden, die nicht an einer schweren Krankheit leiden, steigt.

Im Mai 2013 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) durch die Schweiz festgestellt. Dabei ging es um eine 82-jährige Frau, die seit vielen Jahren Sterbehilfe erhalten wollte, obgleich sie nicht todkrank war. Ärzte hatten sich deswegen aus standesrechtlichen Gründen geweigert, ihr das Sterbemittel Natrium-Pentobarbital zu verschreiben.

Die Frau zog durch alle Instanzen, um ihr Recht auf die Entscheidung über die Art und den Zeitpunkt der Lebensbeendigung durchzusetzen, und wurde abgewiesen. Das EGMR erkannte zwar an, dass bei ihr Art.8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt worden sei, aber nur aus dem Grund, weil die Schweiz es bislang versäumt habe, die Sterbehilfe klar und eindeutig zu regeln und sich nur auf Richtlinien nicht-staatlicher Organisationen beruft:

Der EGMR war der Ansicht, dass die Schweiz ihre positiven Verpflichtung verletzt hätte, klare Richtlinien für die Abgabe von Sodium Pentobarbital zu erlassen. Er stellte eine Verletzung von Artikel 8 EMRK fest. Das Urteil besagt allerdings nicht, dass Artikel 8 EMRK ein Recht auf Hilfe zur Selbsttötung beinhaltet.

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