Der Mathetest

PISA-Vergleich: Wenn Kinder von Reinigungskräften in Singapur Kinder aus amerikanischen, britischen oder israelischen Juristen- oder Ärztefamilien in den Matheleistungen deklassieren

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Mathematik hat ein großes Ansehen. Das Fach ist zur Königsdisziplin unserer Tage geworden. Es liefert die Grundlage exakter Wissenschaften, toller Ingenieurskunst und technischer Forschritte - kein "Schwätzerfach". Gute Leistungen in Mathematik gelten als eindeutig nachweisbarer, objektiver Ausweis von Intelligenz und versprechen Berufskarrieren in unterschiedlichsten Branchen. Seine Internationalität trifft sich gut mit dem "Medaillenspiegel"- Phänomen, mit der Neugier der Medienöffentlichkeit darauf, wie das eigene Land im Vergleich zu anderen abschneidet.

Es gibt "Matheolympiaden", auf nationalem Niveau - die schleswig-holsteinische Landesrunde läuft derzeit - und international; das Hauptinteresse der Öffentlichkeit gewinnen mit großem Abstand jedesmal die PISA-Tests, die als Leistungsstandmessung der Schulen und Schüler ziemliches politisches Gewicht haben.

Vergangene Woche hat die OECD einen Bericht zu den PISA-Tests in Mathematik aus dem Jahr 2012 mit einem interessanten Blickwinkel veröffentlicht. Näher hingeschaut wurde in der Auswertungs-Studie darauf, wie sich die Berufe der Eltern in den verschiedenen Ländern jeweils auf die Mathematik-Leistungen der Schüler (neunte Klasse) auswirken. Das führte zu einzelnen markanten Aussagen, die von Medien in einer Sprache wiedergegeben wurde, mit der man im Sport Niederlagen beschreibt:

The children of cleaners in China and Singapore outperformed the children of lawyers and doctors in the United States and Britain, where these professions are paid the most. They also outscored the children of Israeli lawyers and doctors.

Die Notiz, wonach Kinder von Reinigungskräften in China oder Singapur Kinder aus amerikanischen, britischen oder israelischen Juristen-bzw. Ärztefamilien in den Matheleistungen deklassieren, stammt aus der israelischen Zeitung Haaretz, aus dem Business-Ressort.

Die britische Financial Times entnimmt der Studie, "dass Kinder von britischen Anwälten, Medizinern oder ähnlich qualifizierten Fachkräften im Durchschnitt ein ganzes Schuljahr hinter den Leistungen von Kindern aus Shanghaier Arbeiterfamilien liegen und drei Monate hinter Kindern von Arbeitern in Singapur".

Deutschland: Die Spitze gehört zu den besten der Welt, die Abgehängten sind schlechter

Aus deutscher Sicht fasste Die Welt das Ergebnis so zusammen:

Demnach schneiden die Kinder von Eltern, die etwa als Ärzte oder Architekten arbeiten, bei den OECD-Tests in Mathematik besonders gut ab - sie gehören beim Vergleich der Mathequalifikationen sogar zu den besten der Welt. Gleichzeitig waren die Ergebnisse der Kinder von Eltern, die in körperlichen Tätigkeiten arbeiten, wie etwa im Straßenbau oder am Fließband, in der Mehrheit besonders schlecht - im internationalen Vergleich.

Kurz und vereinfacht gefasst stellt die Studie zwei Phänomene heraus: Schüler mit Eltern, die eine bessere Ausbildung und damit einhergehend finanziell besser gestellt sind, sind im Vorteil. Sie schneiden in den PISA-Mathetests im generellen Durchschnitt besser ab als Kinder von Eltern mit einfachen Erwerbstätigkeiten. Aber es gibt eklatante Unterschiede beim Ländervergleich der Leistungen von Kindern aus benachteiligten Milieus.

Gregor Reisch: Madame Arithmatica, 1508. Bild: Wikimedia Commons; gemeinfrei

Das zeigt sich einmal am Vergleich zwischen Deutschland und Finnland - während die deutschen Kinder aus dem akademischen Milieu, bzw. der Gutqualifizierten, zur Weltspitze gehören, was übrigens auch für Frankreich zutrifft, schnitt Finnland 2012 insgesamt besser ab, weil dort augenscheinlich die Kinder aus dem weniger privilegierten Schichten besser gefördert oder unterrichtet werden, auf jeden Fall bessere Punktzahlen erreichten.

Die Bastel-Module für Kontraste

Dass es, um die Unterschiede besonders markant darzustellen, zu Sätzen kommt, wonach Kinder von Reinigungspersonal in Schanghai um Welten besser abschneiden als Kinder von reichen Anwälten und Ärzten in den USA, liegt zum einen im Bastelpotential, den der Modulbaukasten der Professionen und Beschäftigungen hergibt.

Es sind Kategorien, die der International Standard Classification of Occupations (ISCO) bereitstellt. Dort sind die Berufe in wirtschaftssoziologische Gruppen unterteilt, Gruppe 1 Managers, Gruppe 2 Professionals, Gruppe 3 Technicians und associate Professionals etc. - insgesamt zehn solche Major Groups.

So läßt sich aus jeder Gruppe das auffälligste Beispiel herausholen, um einen Kontrast besonders herauszustreichen. Ob das so konkret wie in den zitierten Beispielen anhand der OECD-Studie tatsächlich zutrifft, ist der veröffentlichten Kurzform nicht zu entnehmen.

Die politische Botschaft

Allerdings läßt die Untersuchung wenig Zweifel daran, dass das Leistungsniveau in Shanghai und Singapur auf hohem Niveau sehr breit gestreut ist. Aus anderen Ländern können da meist nur Kinder mit besten Ausgangsmöglichkeiten mithalten, während die Kinder aus schlechter gestellten Verhältnissen abgehängt sind. Der soziale Unterschied spielt in westlichen Ländern eine sehr viel größere Rolle, ist dem zu entnehmen - wobei im Hintergrund die Möglichkeit mitbedacht werden sollte, dass die Klassen aus Shanghai oder Singapur, die an den PISA-Tests teilnehmen, auch eine Auswahl sind ("das beste Team?") und nicht wie im Fall Shnaghai mit ganz China gleichgesetzt werden kann.

Die politische Botschaft, die die OECD mit der Studie verknüpft, hebt darauf ab, dass die Beispiele Shanghai, Singapur, aber auch Finnland beweisen, dass es möglich ist, der Chancengleichheit sehr viel näher zu kommen, als dies in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, USA oder in Israel der Fall ist.

Die Umsetzung?

Die Frage ist nur: wie? Mit einem besseren Mathematik-Unterricht, mehr Förderung oder mehr Üben?

In Frankreich zirkulieren schon seit einiger Zeit Bücher und Videos, welche die "Mathematik der Singapurer Schule" als intuitiver, kreativer, kurz: besser als die traditionellen französischen Lehrmethoden preisen. In kritischen Beiträgen aus den USA oder auch hierzulande wird häufig darauf verwiesen, dass der Unterschied nicht so sehr in einer didaktischen Zaubermethode zu finden sei, sondern in "Drillmethoden".

Man darf annehmen, dass beim Letzteren eine gehörige Portion klischeehafter Überhöhung dabei ist - wie beim Bild der "Tigermoms", chinesische Mütter, die ihre Kinder zu Höchstleistungen drängen. Doch könnte auch sein, dass die Mathematik, die hierzulande den Ruf eines "Talentfaches" hat ("Man kann es oder kann es nicht und muss auch nicht lernen"), in den östlichen Mathe-Fitnesszentren anders aufgefasst wird, in dem Sinne, dass beim Gespür und Können für diese Disziplin wie bei anderen Fächern auch viel über Üben zu erreichen ist.