Verschwörungstheorie!

Wikipedia, 9/11 und das Problem mit dem Dissens - ein Selbstversuch

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Gibt man bei Google das Kürzel "9/11" ein, taucht fast an erster Stelle der entsprechende Wikipedia-Artikel auf. Die Terroranschläge in den USA liegen zwar mehr als zwölf Jahre zurück, doch selbst die deutschsprachige Version dieser Seite wird weiterhin rege besucht. Laut Statistik informieren sich mehr als tausend Besucher pro Tag hier über Ablauf und Hintergründe des 11. September 2001 - mutmaßlich wohl vor allem Schüler, Studenten und andere Interessierte, die die Anschläge nicht bewusst erlebt haben. Der Wikipedia-Artikel zu 9/11 spielt ohne Frage eine wichtige Rolle für die öffentliche Information zu den Anschlägen.

Bemerkenswert an dem ebenso detailreichen wie gründlichen Text ist jedoch - neben dem Interesse, auf das er weiterhin stößt - vor allem seine offenkundige Einseitigkeit. Der Text referiert die offizielle Sicht auf die Ereignisse ganz so, als handle es sich dabei um eine weithin unstrittige Wahrheit. Gegenpositionen kommen schlicht nicht vor. Einzige Ausnahme: ein fünfzeiliger Absatz mit der Überschrift "Verschwörungstheorien". Dieser informiert knapp:

Zu den Anschlägen vom 11. September haben sich viele Verschwörungstheorien entwickelt. Deren Vertreter gehen meist davon aus, dass die US-Regierung und/oder ihre Geheimdienste die Anschläge wissentlich zugelassen oder selbst durchgeführt haben. Sie bezweifeln die ermittelten Ursachen für die Anschlagsschäden und vermuten andere Ursachen, etwa eine kontrollierte Sprengung der WTC-Gebäude. Anhänger des so genannten "9-11-Truth-Movement" fordern seit 2005 eine neue Untersuchung der Ereignisse. Ihren verschiedenen Thesen widersprechen neben den Experten der FEMA und des NIST auch unabhängige Wissenschaftler.

Weitere Einzelheiten, Differenzierungen oder Argumente gibt es nicht. Dazu muss der interessierte Leser erst einen separat eingerichteten Artikel besuchen: "Verschwörungstheorien zum 11. September". Schon die Trennung suggeriert, dass diese "Theorien" eigentlich nichts mit den historischen Fakten zu den Anschlägen zu tun haben können.

Don Quichotte als Wiki-User

Doch Wikipedia ist ja bekanntlich eine offene Enzyklopädie. Jeder kann teilnehmen und sein Wissen einbringen. Warum also nicht auch ein Journalist, vielleicht sogar einer, der mehrere Sachbücher zum Thema veröffentlicht hat? Dachte ich. Doch Bekannte und Kollegen rieten mir ab. Ich solle bloß die Finger davon lassen. Aussichtslos! Ich würde enden wie Don Quichotte. Das Online-Lexikon wäre längst bekannt als "Church of Wikipedia", Dissenz, insbesondere bei 9/11, sei unerwünscht und würde umstandslos entfernt.

Durch diese Warnungen erst richtig neugierig geworden, begann ich am 7. Februar den Selbstversuch. Zunächst stellte ich mich freundlich auf der entsprechenden Wikipedia-Diskussionsseite vor, als Journalist und Autor, der gern seine Expertise bei der Verbesserung des 9/11-Artikels einbringen wolle. Keine zehn Minuten später hatte ich auch schon eine ebenso freundliche Antwort eines Wiki-Users. Ich könne einfach loslegen, der Artikel habe ja nur einen Halbschutz. Ich solle aber die Regeln für Belege beachten. Und so machte ich mich am Folgetag ans Werk.

Zunächst ergänzte ich den fünfzeiligen "Verschwörungstheorie"-Passus im Hauptartikel. Ich erwähnte die über 2.000 Architekten und Ingenieure von AE911Truth und die Tatsache der Folterverhöre von Hauptzeugen der 9/11-Planung. Als Beleg verlinkte ich den 9/11 Commission Report, Seite 146, der an dieser Stelle einräumt, dass die Commission selbst keinen direkten Zugang zu diesen Zeugen hatte. Zurückhaltend schloss ich: "Viele Skeptiker schließen daraus, dass die eigentliche Planung der Anschläge bis auf Weiteres als unaufgeklärt zu gelten habe. Sie fordern daher eine neue Untersuchung."

Drei Minuten Ruhm

Meine Ergänzung war exakt drei Minuten lang online - von 11:26 Uhr bis 11:29 Uhr. Dann schritt der erste Wikipedianer beherzt ein und "reinigte" die Seite wieder von meiner offenbar unwillkommenen Ergänzung. Das Tempo beeindruckte mich. Die Begründung weniger: "Verschwörungstheorie".

Zurück auf der Diskussionsseite brachte ich meine Verwunderung zum Ausdruck. Und bekam daraufhin von einem anderen Wikipedianer eine Standpauke. Die 9/11 Commission brauchte gar keinen Zugang zu Zeugen, erfuhr ich nun, "weil ihr Auftrag nicht war, Tatbeteiligte zu verhören". Ach so? Alles sei im Übrigen auch längst anderweitig belegt. Und dann, direkt gegen den Überbringer der unfrohen Botschaft vom 9/11-Zweifel:

Auf eigene Faust absichtlich falsche Zusammenhänge zwischen Kommissionsbericht und Verschwörungstheorien herzustellen oder nahezulegen, und zwar in genau derselben Weise wie 9/11-Truther das tun, ist daher nicht nur keine Verbesserung, sondern auch regelwidriges POV-Pushing. Das kann im Wiederholungsfall zu deiner Sperre führen. Und falls du nochmals "vergisst", deinen Senf zu signieren, wird er diskussionslos abgeräumt.

Alles klar. Danke für das herzliche Willkommen bei Wikipedia! Höflich verwies ich in meiner Antwort nun auf die Tatsache, dass die 9/11 Commission tatsächlich mehrfach dringlich versucht hatte, Zugang zu den Zeugen zu erhalten. Denn natürlich wollte die Commission sich selbst ein Bild machen von Khalid Scheich Mohammed, Ramzi Binalshibh und Abu Subaidah, den angeblichen Planern der Anschläge, die derweil in Geheimgefängnissen schmorten, ohne öffentliche Anhörung und ohne Prozess. Vizechef Lee Hamilton drang im Dezember 2003 sogar persönlich bis ins Büro von CIA-Chef George Tenet vor, um den Zugang zu diesen Männern einzufordern. Doch der ließ ihn einfach abblitzen1:

Lee, Du wirst keinen Zugang zu ihnen bekommen. Es wird nicht passieren. Nicht einmal der Präsident der Vereinigten Staaten weiß, wo diese Leute sind. Und er hat keinen Zugang zu ihnen. Und Du wirst keinen Zugang zu ihnen erhalten.

Dass im Lichte des heutigen Wissens von den Folterungen der drei zum Zeitpunkt ihrer Aussagen das ganze Beweisgebäude zur Planung der Anschläge auf sehr wackligen Füßen steht, wollten die an der Diskussion beteiligten Wikipedia-User aber nicht gelten lassen. Daraufhin schaltete ich einen Gang höher und schrieb:

Wenn eine solche rein faktenbasierte und transparente Ergänzung des bisherigen in seiner Form sehr einseitigen Artikels hier unmöglich gemacht wird, werde ich die Diskussion dazu evtl. in ein größeres öffentliches Forum tragen, in dem dann auch die Arbeitsweise innerhalb von Wikipedia selbst Thema sein wird.