"Eine Arbeitswelt inszenieren, in der sich Sklaverei wie Freiheit anfühlt"

Berthold Seliger über Popkultur und "Kreativwirtschaft" als Gentrifizierung

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Mit seinem Buch Das Geschäft mit der Musik - Ein Insiderbericht hat der Tourneeveranstalter Berthold Seliger eine umfassende und grundlegende Abrechnung mit dem Musikbusiness vorgelegt. Er nimmt den Leser mit hinter die Kulissen des Kulturbetriebes und zeigt, wie die Musik von einigen wenigen Multis degradiert wird und gleichzeitig als "Staatspop" zum ideologischen Instrument in einer durchökonomisierten Gesellschaft degeneriert.

Herr Seliger, die "Kreativwirtschaft" spielte Ihren Ausführungen zufolge eine Türöffnerrolle bei neoliberalen Arbeitsverhältnissen. Können Sie uns das erläutern?

Berthold Seliger: Die Künstler und Kulturarbeiter stehen als flexible und selbstverantwortliche Subjekte Modell für eine Neuorganisation der Gesellschaft. Man kann das sehr genau an der gängigen Narration in der Musikindustrie beobachten. Im Kern sind die meisten in der Kreativindustrie tätigen Menschen ja "Arbeiter", wenn man diesen altmodischen Begriff wieder einführen möchte, nämlich "Kulturarbeiter", ein Begriff, den zu verwenden ich bevorzuge - ob Aufnahmeleiter oder Arbeiterin im Presswerk, ob die Verkäufer in den Plattenfirmen, die sich so gern als "Produktmanager" bezeichnen, in Wahrheit aber natürlich alles andere als Manager sind, sondern Verkäufer eines industriell hergestellten Produkts, bis hin zu den Komponisten und Interpreten, die ja nach dem Stand der kulturellen Produktionsverhältnisse am ehesten privilegierte produzierende Facharbeiter im Sektor Dienstleistungen sind, wenn man sie soziologisch einordnen möchte, und keineswegs Unternehmer.

Sich selbst würden aber all die lohnabhängigen Arbeiter und Manager, die in der Musikindustrie arbeiten, und all die Künstler jedoch kaum als "Arbeiter", sondern eben als "Manager" bezeichnen oder im Fall der Künstler als "Selbständige", als "Unternehmer". Und da sind wir eben mitten in der Ideologie des neoliberalen Kapitalismus - die Zuschreibung ist ja: Selbst schuld, wenn du arm bleibst! Selbst schuld, wenn du einen unattraktiven Job machst! Du bist Unternehmer deiner selbst! Du bist für deine Selbstoptimierung, für dein neoliberales Selbst verantwortlich. Und all die "Kreativen", wie es immer so schön heißt, spielen vergnügt die ihnen vom System zugewiesene Rolle als autarke "Miniaturkapitalisten".

Berthold Seliger. Foto: Laschitzki / Edition Tiamat.

Was bedeutet das konkret?

Berthold Seliger: Zum einen haben wir entsprechend all die wirtschaftlich brutal schlecht bezahlten Jobs - im Extremfall: unbezahlte oder skandalös gering bezahlte Praktika - in der "Kreativwirtschaft", oder Musiker, deren durchschnittliches Jahreseinkommen laut KSK eben nur 12.005 Euro beträgt. Nur etwa 50 Prozent der Beschäftigten in der Kulturbranche haben überhaupt noch einen festen Arbeitsplatz und die Bezahlung liegt oft nur knapp über Hartz IV-Niveau. Und von den anderen 50 Prozent, den Freiberuflern, leben zwei Drittel in prekären Verhältnissen.

Also hat das System im Grunde ein ideologisches Problem, die in der Kulturindustrie Tätigen müssten eigentlich Sturm laufen gegen ihre soziale Marginalisierung. Die "Kreativwirtschaft" hat es aber geschafft, den Menschen vorzugaukeln, dass sie Teil von etwas ganz Tollem sind, im Sinne von "es kommt darauf an, dass man sich selbst optimiert, etwas Interessantes macht, dann zwar schlecht bezahlt wird, aber als Mensch total relevant bleibt". Das ist die Generation, die Thatchers There's no such thing as society verinnerlicht hat. Auf der Homepage des Bundeswirtschaftsministerium prangte 2011 der Slogan: "Die Kreativwirtschaft ist das Leitbild für die Industrie von morgen." Mission accomplished, würde ich sagen.

"Eindimensionalität der kreativen Klasse"

Wenn die Jobs so schlecht bezahlt sind: Wer arbeitet denn überhaupt in der "Kreativwirtschaft"?

Berthold Seliger: Da diese Jobs so gering bezahlt werden, trifft man in der "Kreativwirtschaft" praktisch keine Unterschichts- und Arbeiterkinder mehr, sondern nur noch Vertreter der Mittelschicht, deren Ansichten sich damit immer mehr verselbständigen. Diese Schicht gibt ihren Einfluss nicht mehr her und lässt die attraktiven, aber schlechtbezahlten Jobs von ihren Kindern machen, was die Eindimensionalität der kreativen Klasse vertieft und zementiert. Hier kommt keiner mehr von außen ran, da kommt keiner mehr dazu, das ist eine gated community von Besitzenden.

Diese Leute werden zwar seit Bestehen der Bundesrepublik die erste Generation sein, der es schlechter geht als ihren Eltern, aber die Kinder der Mittelschicht verfügen über einen Distinktionsvorteil, den sich Arbeiterkinder überhaupt nicht mehr leisten können. Das geschieht auf allen Ebenen: In den Kindergärten, Schulen etc., die Leute, die studieren, sind ja auch hauptsächlich Mittelschichtkinder. Fast ausnahmslos entstammen die Popkünstler und Pop-Kulturarbeiter der Mittel- und der Oberschicht, das sind Apotheker- oder Arztsöhne, Lehrer- oder Unternehmertöchter, die mit dem Erbe ihrer Eltern kulturell spannende Jobs machen.

Mittlerweile ist die Popmusik Mittelschichtmusik geworden: Sechzig Prozent der Bands, die in den englischen Charts vertreten sind, haben Privatschulen absolviert, und Privatschulen dort sind noch um einiges kostenaufwendiger als in Deutschland, da gehörst du definitiv als Privatschüler zur Oberschicht. So hört sich die Musik dann leider auch an. Hier greift eines ins andere. Es ist schwer, das alles ganz auf den Begriff zu bringen, aber es ist klar, dass hier eine Entwicklung im Gang ist, die nichts Gutes erwarten lässt.

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