UN: Mehr Migranten im Mittelmeer umgekommen als 2015

Vorgänger-Operation Triton.Rettung von Flüchtlingen, Juni 2015. Bild: Irish Defence Forces/CC BY 2.0

Italiens Wirtschaftsminister droht mit Aufnahmestopp von Flüchtlingen

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Im bisherigen Jahresverlauf sind mehr Migranten im Mittelmeer umgekommen als im gesamten Jahr zuvor, das sei die schlimmste Bilanz, mit der man bislang konfrontiert worden sei, gab der Sprecher des UNHCR heute bekannt 3.800 Menschen seien bei der Überfahrt im Mittelmeer "gestorben oder verschwunden", so William Spindler.

Er korrigierte damit die Angaben von gestern. Da war noch von 3.740 Opfern die Rede. Die Bilanz des Jahres 2015 registriert 3.771 Todesfälle. Schon am Dienstag wurde schon der Superlativ verwendet, der ähnlich wie die Bezeichnung "Rekord" versucht, in der Medienöffentlichkeit Aufmerksamkeit für ein Problem zu bekommen, dessen Härte alle überfordert: "2016 droht tödlichstes Jahr im Mittelmeer zu werden."

Weniger Überfahrten, mehr Tote

Der UNHCR-Sprecher wies auf ein eigentümliches Phänomen hin: Im vergangenen Jahr hätten weitaus mehr Migranten versucht, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Er nannte dazu die bis auf der Einerstelle konkrete Zahl von 1.015.078 Migranten, denen die Überquerung geglückt ist. In diesem Jahr seien es im Vergleich sehr viel weniger: "bis dato 327.800 Personen". Die Statistiker machten sich ans Werk und ermittelten, dass 2015 einer von 269 Personen bei der Überfahrt ums Leben kam. Dieses Jahr liege das Verhältnis bei 1:88. Am riskantesten sei die Überfahrt von Libyen: "Einer von 47 bezahlte den Fluchtversuch mit seinem Leben."

Der UNICEF-Sprecher Spindler erklärt das wachsende Risiko damit, dass Schleuser immer öfter Boote "von schlechter Qualität nutzen", die überladen werden: "Sie lassen oftmals mehr als tausend Menschen gleichzeitig auf die Boote. Dies könnte mit der Veränderung des Schleusergeschäfts zusammenhängen oder damit, dass Schleuser versuchen die eigenen Risiken zu senken. Die Arbeit der Rettungshilfe erschwert sich dadurch massiv."

Kritik an Abschottungs-Ziel von "Sophia" und an Gewalttätigkeit der libyschen Küstenwache

Demgegenüber kritisierte der Sprecher der Hilfsorganisation Seawatch (Link auf 44297) gestern die libysche Küstenwache und die EU-Operation vor der Küste Libyens. Die EU-Operation Sophia habe nicht den Fokus auf Rettung ausgerichtet, sondern auf Abschottung, gab der Seawatch-Sprecher Ruben Neugebauer dem Deutschlandfunk zu verstehen. Er warf in diesem Zusammenhang der libyschen Küstenwache, deren Ausbildung durch die EU diese Tage anlaufen soll, vor, dass sie Rettungsversuche von Hilfsorganisationen sogar mit Gewalt zu vereiteln sucht.

Der Vorwurf von Seawatch ist nicht neu (Sea-Watch: "Bewaffnete Männer stürmten die Brücke"). Sprecher Neugebauer verweist erneuet auf einen gewalttätigen Einsatz der libyschen Küstenwache am vergangenen Freitag und folgert daraus:

Und wenn man sich diese verschiedenen Vorfälle in der Summe anschaut, dann ist es zumindest in Zweifel zu ziehen, dass es bei dieser Mission (der EU-Mission, Anm. d. A.) um Seenotrettung geht, sondern dann ist für uns offensichtlich, dass da andere Ziele im Vordergrund stehen. Wir haben eine ähnliche Situation gehabt in der Türkei, wo dieser Türkei-Deal dann auch erst mal zu Übergriffen geführt hat, und wir haben jetzt die Befürchtung, wenn in Libyen sich so was anbahnt, dass es da noch viel, viel schlimmere Ausmaße annimmt.

Ruben Neugebauer, Sprecher von Seawatch

Laut einem gemeinsamen Bericht von Europol und Interpol sollen 400.000 sollen sich im Mai 2016 geschätzt 400.000 Migranten in Libyen aufgehalten haben mit dem Ziel nach Europa zu gelangen. Der Zahl wird eine weitere Schätzung von 800.000 Personen angefügt, die vom Nahen Osten oder aus der Sahel-Region mit diesem Ziel nach Libyen kommen.1

Ob die Zahlen stimmen, ist, wie die Erfahrung - mit allerdings weitaus höheren Schätzungen von "Millionen wartenden Migranten" - zeigt, in Libyen von allerhand Ungewissheiten umgeben.

Italien: Hohe Ankunftszahlen nicht mehr zu verkraften

Gewiss ist jedoch, dass in diesem Jahr mehr Migranten über das Mittelmeer nach Italien gekommen sind als im "Rekordjahr 2014". Von einer Beruhigung der Flüchtlings/Migrantensituation kann in Italien - im Gegensatz etwa zu Deutschland oder Österreich - überhaupt nicht die Rede sein.

Im Gegenteil: Italiens Ministerpräsident Renzi spricht davon, dass sein Land "kein weiteres Jahr mit ähnlich hohen Ankunftszahlen mehr verkraften könne". Er appelliere an Hilfe aus der EU und drohe mit einem Veto gegen den EU-Haushalt, berichtet der österreichische Standard. "Wenn Staaten wie Ungarn, Tschechien und die Slowakei, die eine Umverteilung von Flüchtlingen ablehnten, ‚uns belehren‘, komme er zu dem Schluss, dass das System 'nicht funktioniert‘", wird Renzi zitiert.

Sein Wirtschaftsminister Pier Carlo Padoan drohte in der Zeitung La Repubblica mit einem Aufnahmestopp der Flüchtlinge, falls sich die EU bei der Neuverschuldung des italienischen Haushalts zu streng zeige. Dann würde man sich verhalten wie Ungarn. "Das wäre der Anfang vom Ende der EU."