Russland: Angst vor dem "Ukraine-Szenario"

Hart geht die russische Regierung gegen Protestierende vor, der Maidan-Rat zeigt, dass man die politische Kaste der Oligarchen zügeln will

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Wie schon in Sotschi und zuvor aufgefallen hat die russische Regierung panische Angst vor radikalen Oppositionellen. Wie im Fall Syrien neigt die russische Führung auch in der Ukraine zur Bewahrung des Status quo. Das sichert Putin und Co. auch die Macht. Allerdings ist es kurzsichtig, die herrschende Ordnung als die angeblich legitime verteidigen zu wollen. Es gibt Veränderungen, die Geschichte schreitet voran und vor allem dort, wo es die Herrschenden zu wild getrieben haben wie in Syrien oder in der Ukraine, lassen sich Hoffnungen auf einen anderen Staat nicht auf Dauer mit Gewalt unterdrücken.

Am Vormittag hatte Präsident Putin ein Treffen mit dem Sicherheitsrat, in dem es um die Ukraine ging. Bild: Presidential Press and Information Office

Eigentlich hätte Putin also etwas an der Ukraine lernen können, was er schon nicht in Syrien eingesehen hat. Aber er ist offenbar der Meinung, dass man nur entschlossen und früh genug intervenieren müsse, um den aus seiner Sicht ungerechtfertigt Protestierenden die Lust am Protest auszutreiben. Gestern wurden also gleich mal 420 Demonstranten festgenommen, darunter den Oppositionsführer Alexei Navalny und die Pussy-Riot-Aktivistinnen Nadezhda Tolokonnikova und Maria Alyokhina . Das ist schon eine stolze Zahl, weil damit fast alle, die gegen die Urteile im "Bolotnaja-Prozess" bei einer ungenehmigten Demonstration protestiert hatten, in Gewahrsam genommen wurden. Auch in Petersburg kam es am Montagabend zu Protesten. Von den 100 Teilnehmern wurden 60 festgenommen.

Die teils schweren Strafen für Teilnehmer am "Marsch der Millionen", der am 6. Mai 2012 zum erneuten Amtsantritt von Präsident Putin stattfand, zeigt die Angst, die die Machthaber vor ähnlichen Bewegungen wie in der Ukraine habe. Sieben der Angeklagten wurden mit Haftstrafen bis zu vier Jahren verurteilt. Damals war die Protestbewegung in Russland noch stärker, aber ähnlich bunt wie die in Kiew zusammengesetzt, auch mit Beteiligung von linken und rechten, nationalistischen Organisationen und Parteien. Bei den Zusammenstößen mit der Polizei waren mehr als 400 Demonstranten festgenommen worden, gegen die wegen "Massenunruhen" und Gewalt gegen Vertreter von Behörden ermittelt wurde (Anti-Putin-Demo in Moskau endet mit 400 Festnahmen). Nicht nur wegen der Repression, sondern auch wegen mangelnder Beteiligung schlief die Oppositionsbewegung danach aber ein. Bei den folgenden "Märschen der Millionen" ließen sich nur noch wenige mobilisieren (Moskauer "Marsch der Freiheit" endet mit Festnahmen).

Heute versicherte der russische Außenminister Sergej Lawrow, dass sich Russland nicht in die inneren Angelegenheiten der Ukraine einmischen werde: "Wir bestätigten unsere prinzipielle Position der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der Ukraine." Wir rechnen damit, dass alle sich an diese Logik halten werden." Er hoffe, dass sich alle an dieses Prinzip halten und mit allen politischen Kräften in der Ukraine in Kontakt stehen. Die Ukraine müsse "Teil einer paneuropäischen Familie bleiben." Man dürfe due Ukraine nicht zwingen, sich für eine Seite zu entscheiden.

Regierungschef Medwedew hatte gestern noch erklärt, dass Russland die Legalität der neuen Regierung bezweifelt und nicht wisse, mit wem man dort sprechen soll. Insbesondere lehnte er die Vertreter der Maidan-Bewegung ab, die einen gewaltsamen Umsturz begangen und sich nicht an das Abkommen mit Janukowitsch gehalten haben. Lawrow betonte aber weiter, dass die Präsidentschaftswahlen im Mai zu früh angesetzt seien, weil sie erst nach der eigentlich beschlossenen Verfassungsreform kommen sollten. Heute hat Präsident Putin mit dem Sicherheitsrat über die Entwicklung in der Ukraine gesprochen.

Der Vizesprecher der Duma, Vladimir Vassilyev, erklärte heute, dass in Russland das "Ukraine-Szenario" unmöglich sei. Das klingt eher schon nach einer Beschwörung, zumal er bei der Gelegenheit auf "die erste Welle des Terrorismus" verweist. Die Welt habe erst 9/11 benötigt, "um die Gefahr des Terrorismus und die Tatsache zu erkennen, dass dieser sich manchmal auch hinter der Toga einer nationalliberalen Bewegung verbirgt". Man habe dies in Russland erkannt, was wohl heißen soll, dass man hart gegen Proteste vorgeht. In der Ukraine hätten Menschen, von denen viele obskur und unbekannt sind sowie bestimmte Gruppen, aber keine politischen Bewegungen, eine Atmosphäre der Angst durch Brandstiftung, Gewalt und Mord verbreitet. Und die Situation ging bis zur Machtergreifung. Das ist ein abschreckendes Beispiel für viele." Es könnte freilich eher ein Beispiel dafür sein, dass ein Machtwechsel möglich ist. Der Sprecher bleibt auch dabei, wie das von der Regierung und den russischen Medien gemacht wurde, die Protestierenden in die Ecke von Kriminellen, Terroristen und Rechten zu schieben.

Aber in Russland könne ein solcher Umsturz nicht geschehen, der auch deswegen zustande gekommen sei, dass Präsident Janukowitsch seine Pflicht nicht erfüllt habe: "Wir haben einen anderen Präsidenten, eine andere Gesellschaft und andere politische Kräfte", versucht er zu beruhigen. In Russland würden 70 Parteien bei den Wahlen antreten, man habe auch viel für die Einheit des Landes getan. Die Ausführungen lassen erahnen, wie beunruhigt die politische Kaste in Putin gelenkter Demokratie ist.

Das lässt sich auch daraus schließen, dass mit der Maidan-Bewegung die politische Kaste, die auch die orange Revolution übernehmen konnte, neue Kräfte ins Spiel gekommen sind, die dieses Mal ihren Einfluss geltend machen wollen. Aufgrund der Forderungen musste die Aufstellung der Übergangsregierung um zwei Tage verschoben werden. Verlangt wird vom Maidan-Rat, dass die Regierungsmitglieder nicht auf der Liste der 100 reichsten Ukrainer stehen und kein Amt in der gestürzten Regierung gehabt haben dürfen. Jedes Regierungsmitglied müsse neben dem Parlament auch die Zustimmung des Maidan haben.