Ukraine: Mitglieder der Interimsregierung sind "Selbstmordkandidaten"

Timoschenko und Klitschko wollen lieber Präsident werden, Spannungen mit Russland gären weiter

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Eigentlich hätte die Interimsregierung gestern schon gebildet werden sollen. Aber die Politiker können die Posten nicht unter sich ausmachen, die Maidan-Bewegung ist während der Proteste als politischer Faktor so stark geworden, dass sich zumindest jetzt noch niemand traut, über diese wegzugehen. Mitglieder der Bewegung sollen in die Interimsregierung aufgenommen werden. Deren Widerstand gegen das Abkommen, das die Führer der drei Oppositionsparteien in Anwesenheit der europäischen Außenminister Fabius, Steinmeier und Sikorsky mit Janukowitsch ausgehandelt hatten, führte erst zum Sturz von Janukowitsch. Jetzt forderte der Maidan-Rat, dass man niemanden in der Regierung dulden werde, der ein Amt in der Vorgänger-Regierung innehatte und auf der Liste der 100 reichsten Ukrainer steht. Mit dem ersten Versuch, die Oligarchen und den politischen Filz ein wenig zurückschneiden, wurde es erst einmal mit der schnellen Regierungsbildung nicht, die nun bis Donnerstag stehen soll. Aber wer ist die Maidan-Bewegung?

Wer ist "der Maidan"? Maidan am 22. Februar. Bild

Julia Timoschenko, selbst schwerreich und vielseitig verwoben in der politischen Kaste und mit Janukowitsch, hat es abgelehnt, Ministerpräsidentin einer neuen Regierung zu werden, offenbar will sie aber für die Präsidentschaft kandidieren. Im Gespräch mit Catherine Ashton meinte sie auch, dass Repräsentanten der Maidan-Bewegung und Experten in die Interimsregierung aufgenommen werden sollten. Schon zuvor hatte sie ihr Einverständnis damit erklärt, dass die Maidan-Bewegung die Regierungsmitglieder akzeptieren müsse. Nachdem lange Zeit Klitschko von Deutschland und der EU unterstützt wurde, ist seit der Freilassung von Timoschenko offenbar diese interessanter. Kanzlerin Merkel bot ihr gleich an, dass ihr Rückenleiden in Deutschland behandelt werden könne, was diese annahm. Auch Elmar Brok, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlaments, sprach mit ihr und begrüßte ihre Rückkehr in die Politik. Vermutlich weiß man, was man mit der durchtriebenen Politikerin hat, verrät aber damit auch die Menschen in der Ukraine, die für mehr Demokratie und weniger Korruption gekämpft haben.

Die Nähe zur Maidan-Bewegung hat auch Vitali Klitschko kund getan, der ebenfalls kein Interesse zeigt, Teil der Interimsregierung zu werden, da man sich hier schnell die Finger schmutzig machen und in Ungnade fallen kann, weil schwierige Fragen im herrschenden Machtvakuum, in der aufgeheizten Situation und angesichts der Staatspleite gelöst werden müssen. Auch er will für das Amt des Präsidenten kandidieren, dürfte aber wenig Chancen gegen Timoschenko haben. Interessant wird sein, ob die Maidan-Bewegung einen Kandidaten ins Rennen schickt, der nicht aus der politischen Kaste stammt.

Auch der Gouverneur von Charkow, Michail Dobkin, tritt als Präsidentschaftskandidat an. Er war ein Vertrauter von Janukowitsch, hat aber noch nicht erklärt, ob er für die Partei der Regionen oder als Unabhängiger antreten will. Er will diejenigen repräsentieren, die gegen "Faschismus und Nationalismus" sind.

Als Kandidaten für den Interims-Regierungschef wurden Arseni Jazenjuk von der Vaterlandspartei und der Milliardär Petro Poroschenko genannt. Beide gehören zur politischen Kaste und waren schon mal Minister, Poroschenko wurde zwar über die Orange Revolution, die er mit finanziert hatte, in die Politik gebracht, ist aber auch ein Vertrauter von Janukowitsch. Er war bis 2010 unter Timoschenko Außenminister und bis 2012 Wirtschaftsminister, hat sich aber seit 2013 mit seinem Fernsehsender "TV5" für die Maidan-Bewegung ausgesprochen und kann als typischer Vertreter der herrschenden Klasse gelten, der macht, was seinen Interessen opportun zu sein scheint.

Die Interimsregierung wird einen schweren Job haben. Arseni Jazenjuk, der Fraktionschef von Timoschenkos Vaterlandspartei erklärte auch offen, warum sich keiner darum reißt, Mitglied der Interimsregierung zu werden: "Diese Regierung wird vor ungeheuerlichen Herausforderungen stehen. Man muss offen sagen, dass jene, die in das Kabinett einsteigen, einerseits das Land retten und sich andererseits dessen bewusst sein sollten, dass sie politischen Selbstmord begehen."

Alles kann zu neuen Konflikten führen, zumal auch das Verhältnis mit Russland noch Sprengfallen birgt. Nicht nur gibt es im etwas wohlhabenderen Osten viele Menschen, die russisch sprechen und sich Russland zugehörig fühlen, weswegen in Russland schon die Idee aufkam, diese mit russischen Pässen auszustatten. Das Land ist auch abhängig von russischen Gaslieferungen, deren Preis die russische Regierung zum Zweck der Erpressung wieder in die Höhe fahren kann. Und dann ist auf der Krim noch ein großer Stützpunkt der russischen Flotte. Janukowitsch hatte erst 2010 den Vertrag mit Russland über den Flottenstützpunkt in Sewastopol um 25 Jahre verlängert und als Gegenleistung einen Preisnachlass für Gas erzielt.

Aus Russland kamen auch gestern schrille Stimmen. Präsident Putin und Ministerpräsident Medwedew halten sich zwar zurück, was auch die Anerkennung der neuen Machthaber betrifft, die sie nicht anerkennen wollen. Das hat nicht nur mit der Sorge zu tun, dass die Ukraine Richtung Westen, EU und Nato abgleiten könnte, sondern auch mit der Angst, dass in Russland eine Oppositionsbewegung ähnlich wie in der Ukraine entstehen könnte. Rechtsaußen Schirinowski hat schon mal von einer militärischen Intervention gesprochen, Außenminister Lawrow machte jedoch klar, dass Russland sich nicht in die inneren Angelegenheiten der Ukraine einmischen werden, was er aber auch von den westlichen Staaten forderte.

Aber in Russland köchelt es weiter. So drohte Leonid Sluzki, der Vorsitzende des Duma-Ausschusses für die Angelegenheiten der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), schon einmal an, dass man nicht tatenlos zusehen werde, wenn das Leben russischer Bürger in der Ukraine gefährdet werde. 60 Prozent der Bevölkerung in der Krim sind Russen. Hier wachsen die Spannungen. Nach Gerüchten könnte sich Janukowitsch, untergetaucht wie Saddam Hussein in einem Erdloch, auf der Krim verstecken. Der Stützpunkt wurde in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt.

Am 23. Februar wurde in Sewastopol ein russischer Unternehmer zum Bürgermeister gewählt, nachdem der amtierende sich Janukowitsch angeschlossen hat und geflüchtet ist. In der Stadt sollen sich bewaffnete Milizen von der "Bewegung Volkswille" gebildet haben, Menschen jubelten dem neuen Bürgermeister zu. Angeblich hat der ukrainische Generalstabschef Juri Iljin einen geplanten Besuch verschoben. Der russischen staatlichen Nachrichtenagentur RIA Novosti soll ein Mitglied des Stabs der ukrainischen Marine erzählt haben, es gebe Pläne der neuen Machthaber in Kiew, "die prorussischen Stimmungen in der Stadt mit Hilfe der Armee zu unterbinden". Das klingt sehr nach Stimmungsmache, zumal der ukrainische Militär gesagt haben soll, dass militärisch nichts zu machen sei:

In Sewastopol gebe es viele Armeeangehörige im Ruhestand, während Kiew gegen sie unerfahrene Wehrpflichtige habe schicken wollen. "Es ist kaum möglich, die prorussischen Stimmungen in Sewastopol zu unterdrücken. Und der Einsatz der Armee in der Stadt wäre ein Verbrechen", sagte der ukrainische Militär.

RIA Novosti

Und dann wurde von einem Mitglied des Föderationsrats auch noch auf die ukrainischen Atomkraftwerke hingewiesen. In den vier AKWs fehle die Kontrolle durch die Sicherheitsbehörden, sagte Michail Margelow, der Vorsitzende des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten. Die Mitglieder des Sicherheitsdienstes würden Telefonanrufe nicht beantworten oder seien untergetaucht. Die mangelnde Sicherheit betreffe nicht nur die Ukraine, sondern auch die Nachbarländer.

Interessanterweise verglich Margelow die Ereignisse in der Ukraine mit dem Arabischen Frühling, wo die Menschen gegen die Behörden, die Korruption und die Armut protestierten, dann aber von den Extremisten vereinnahmt worden seien: "In Tunesien und Ägypten sind die Islamisten durch revolutionäre Romantiker an die Macht gekommen." Die Islamisten hätten aber nicht die sozioökonomischen Probleme gelöst, sondern wollten nur die Islamisierung vorantreiben. Unklar bleibt, was die Islamisten mit den Ukrainern zu tun haben. Wichtig ist Margelow, dass es in der Ukraine bislang "keine normale Regierung" gibt. Und das russische Außenministerium findet es nicht gut, wenn prorussische Symbole wie Lenin-Denkmäler zerstört werden. Das sei "russophobisch", die ukrainische Regierung müsse dem Einhalt gebieten.