Wirkt Richard Dawkins bis in die Golfstaaten?

Dort soll sich seit einiger Zeit der Atheismus verbreiten

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Auch in den Golfstaaten werden Vertreter des sogenannten New Atheism, Richard Dawkins, Christopher Hitchens und Sam Harris gelesen, im Verborgenen, aber man kennt sich, wie ein saudischer Atheist verrät. Atheismus sei in jenen Ländern, die hierzulande als Festungen fundamentalistischer religiöser Überzeugungen gelten, ein durchaus ernst zu nehmendes, verbreitetes Phänomen, behauptet ein Artikel der Webseite al-Monitor.

Schon im vergangenen Jahr mutmaßte der bekannte Blogger Angry Arab, dass sich "viele junge Araber sich völlig von der Religion abgewandt haben und wies auf einen Trend hin, den westliche Medien übersehen würden. AbuKahlil schrieb in diesem Zusammenhang sogar von einer Ankunft einer "neuen politischen und intellektuellen Ära: die (zweite) Epoche des modernen arabischen Atheismus".

Politisch interessant ist seine Voraussage, weil er sie mit einem gegenläufigen Effekt der islamistischen Regierungen verknüpft hat. Diese würden den Boden für eine Abkehr von der Religion bereiten. In einem Punkt hat er Recht behalten: dass die Machtübernahme der Muslimbrüder in Ägypten und der Islamisten in Tunesien "von kurzer Dauer sein wird". Das hat sich im Fall Ägypten schon wenig später nach Erscheinen seines Artikels im Mai 2013 bestätigt; auch in Tunesien musste die Ennahda seither viel von ihrer Macht abgeben. Beide Versuche einer islamistischen Regierung gelten als gescheitert.

Ob das aber mit einer Abwendung von der Religion einhergeht, ist die Frage. Schließlich kann man Muslim sein, ohne für eine islamistische Regierung einzutreten, aus der Glaubenzugehörigkeit folgt auch nicht zwingend Sympathie für die Muslimbrüder oder die Enahda.

Aktuell nimmt nun der al-Monitor-Autor Sultan Sooud Al-Qassemi das Thema arabischer Atheismus wieder auf. Qassemi lebt in Dubai. Er beschäftigt sich viel mit Social Media, die in den Golfstaaten sehr populär sind und er misst diesen Medien - und nicht den Islamisten - eine Katalysatorfunktion bei, wie schon seine Überschrift suggeriert: "Gulf atheism in the age of social media". Seine Kernaussage:

Im Laufe der letzten Jahre hat ein zunehmende Zahl von Bürgern der Golfstaaten angefangen, sich von der praktischen Ausübung der Religion zu distanzieren und in einigen Fällen sogar damit begonnen, offen die Rolle der Religion in der Gesellschaft zu kritisieren.

Ein Ausweg bietet sich in der Bezeichnung "säkular"

Erhärten kann er seine Behauptung nicht, was ihm möglicherweise einigen Ärger erspart - da sie besonders in Saudi-Arabien oder Katar, wo Machtinteressen engstens mit einer religiösen Gehorsamskultur bzw. mit der Instrumentalisierung fanatischer Gruppen (siehe Syrien) verbunden sind, auf Missfallen stoßen könnte. Er hält sich an eine geschichtliche Aufbereitung, erzählt von berühmten Aussteigern zum Atheismus, wie Abdullah al-Qasemi oder stolzen Einzelgängern wie Ahmed al-Baghdadi, die Aufklärung gegen Religion setzten und die letztere mit einer unfruchtbaren Rückständigkeit verbanden.

Das ist geschickt, weil der Blick auf die Geschichte darauf aufmerksam macht, dass von solchen säkular gesinnten Intellektuellen dieses Kalibers im arabischen Raum eigentlich nicht mehr die Rede ist. Wenn es sie gibt, dann tauchen sie in der Medienöffentlichkeit nicht auf. Noch viel ärger steht es um die gewöhnlichen Bewohner, die sich von der Religion abgewandt haben, das Thema Atheismus ist tabu und wird als eingestandene Überzeugung hart bestraft, ein Ausweg bietet sich in der Bezeichnung "säkular" - weswegen genaue Zahlen der Atheisten so bald nicht zu bekommen sind.

So bietet al-Qassemis Artikel auch nur eine einigermaße handfeste Zahl; sie stammt von einer Gallup-Umfrage aus dem Jahr 2012. Demnach bezeichneten sich 5% der befragten Bewohner Saudi-Arabiens als Atheisten. Der Wert sei überraschend hoch, so Sultan Sooud Al-Qassemi, und rückt dies sogar in die Nähe zu Werten in Europa oder den USA, was der Realität nicht entsprechen dürfte, auch wenn man etwa für Deutschland 2010 den Prozentwert bei 8 einschätzte.

Im Artikel der Zeit, aus der die Angabe stammt, wird dazu ein Religionswissenschaftler folgendermaßen zitiert: "Es gibt viel mehr Menschen, die faktisch Atheisten sind, als solche, die sich auch so nennen würden."

Das muss 2014 später auf Deutschland nicht mehr in dem Maße zutreffen wie 2010; in den Golfstaaten dürfte es aus genannten Gründen aber genau so sein. Laut dem al-Monitor-Autor geht so manche Tür auf zu den Rückzugsgebieten der Atheisten, wenn sie erst Vertrauen haben.

Als Indiz dafür, dass es sich um eine ganze Menge handeln könnte, verweist er - wie der Angry Arab - auf Gruppen in Facebook und mutige Blogger und auf das eingangs genannte Interview mit dem saudischen Atheisten. Dass in den Vorzeige-Golfstaaten, die sich mit Milliarden ins Zeug legen, um sich dem Westen in einer bestimmten Moderne entsprechend als ebenbürtig zu erweisen, diese Moderne möglicherweise auch Auswirkungen auf eine religiöse Bindung haben kann, auf diesen naheliegende Erklärungsweg verzichtet Sultan Sooud Al-Qassemi.