Die Interessenverbände haben sich den Staat unterworfen

Eine Demokratie haben wir schon lange nicht mehr - Teil 15

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Im Folgenden wird beschrieben, wie die Lobbyisten, die Wirtschaft und ihre Verbände die Gesetzgebung aushebeln. Nur der Staat könnte die Grenzen ziehen, innerhalb derer das Gemeinwohl und damit die Selbsterhaltung der Gesellschaft gesichert bleibt. An dieser Aufgabe ist er jedoch in den entwickelten Demokratien gescheitert. Und deshalb entgleitet ihm die Grundlage, auf der er seine Staatsgewalt ausüben darf. Der Staat gibt vor, im öffentlichen Interesse zu handeln und beansprucht deshalb das Gewaltmonopol. Aber die Legitimität dieses Anspruchs ist erschüttert. Die Bürger entziehen ihm und seinen Repräsentanten das Vertrauen, sie fühlen sich in wachsendem Maße von Staat und Politik verraten und verkauft. Nein, das ist schon nicht mehr wahr: Sie werden von ihm verraten und verkauft. Das ist nicht mehr bloß ein Gefühl, das ja trügen könnte.

Nach wie vor üben Interessenverbände einen machtvollen Einfluss auf die Gesetzgebung aus. Wie das konkret funktioniert, lässt sich exemplarisch an der Gesundheitsreform von 2010 illustrieren. Das Beispiel steht für viele hundert anderer Gesetze, bei denen die Einflussnahme nach ähnlichem Muster verläuft und verlief.

Damals hat der Verband forschender Arzneimittelhersteller (vfa) ein Gesetz direkt mitgeschrieben, das die Beitragszahler mehrere Milliarden Euro kostet. Und nach diesem Muster funktioniert jedes Mal die Einflussnahme der Verbände auf den Staat. Das Gesetz, das am Ende dabei herauskommt, dient einzig und allein den wirtschaftlichen und sonstigen Interessen derjenigen, die der jeweilige Verband vertritt. Und die Verbraucher, Patienten, Beitragszahler und sonstigen Mitglieder der Bevölkerung gucken in die Röhre und werden erbarmungslos zur Kasse gebeten.

Es entsteht und verfestigt sich eine völlige Schieflage in Gesellschaft und Politik. Die einzelne Einflussnahme eines einzelnen Verbands auf ein kleines Gesetz wäre ja keine Tragödie. Aber es ist eine Katastrophe, wenn tausende Lobbyisten auf tausende von Gesetzen über Jahrzehnte hinweg ihre partikularen Interesseneinflüsse durchsetzen.

Dann bricht auf längere Sicht ein ganzes System zusammen und wandelt seinen Charakter. Die Vielzahl der Verzerrungen kumuliert sich über viele Jahre und Jahrzehnte. Und es entsteht ein politisches Gebilde, das fest in der Hand von Sonderinteressen ist und mit dem gemeinen Wohl absolut gar nichts mehr zu tun hat.

In der Zeit vor der Entstehung des absoluten Staats waren die Menschen grundsätzlich Eigentum verschiedener Dynastien. Ein unseliger Zustand, aus dem sie erst der sich allmählich entwickelnde absolute Staat befreite. Heute droht der moderne Staat wieder zu zerfallen, und die in entwickelten Demokratien lebende Menschheit gerät nun in die quasi-dynastischen Hände der Wirtschaftsoligarchen.

Bis Anfang 2011 konnten die Arzneimittelhersteller die Preise ihrer Medikamente selbst festlegen. Gut für die Hersteller, schlecht für die Patienten. Deshalb hat Deutschland die weltweit höchsten Arzneimittelpreise.

Anfang 2011 wurde das Gesetz geändert. Seither gilt der Grundsatz: Je höher der Nutzen eines Medikaments, desto höher sein Preis. Um den Preis festzulegen, muss also zuvor der Nutzen bewertet werden. Nicht ganz einfach. Wie soll man und vor allen Dingen, wer soll bestimmen, wie der Nutzen eines Medikaments festgelegt werden kann?

Die Regierung knickt vor der Pharmaindustrie ein

Wenn man darüber nachdenkt, liegt der Gedanke nahe, dass vor allem Ärzte und Kliniken, aber auch Krankenkassen als Vertreter der Patienten das wohl am besten können. Die sind in ihrer täglichen Arbeit nahe genug an den Patienten und können am verlässlichsten beurteilen, welche Medikamente nützen.

Also sah der erste Diskussionsentwurf zum Arzneimittel-Neuordnungsgesetz (AMNOG) vom 27. Mai 2010 vor, dass ein Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA) von Ärzten, Kliniken und Krankenkassen diese Nutzenbewertung vornehmen sollte, also auf jeden Fall ein Ausschuss von Leuten, bei denen sicher schien, dass sie sich im Interesse der Patienten entscheiden würden.

Das sah auch der Referentenentwurf vom 1. Juni 2010 noch so vor und ein weiterer Kabinettsentwurf vom 24. Juni 2010 und sogar der von CDU/CSU und FDP als Vorlage der Bundesregierung in den Bundestag eingebrachte Gesetzentwurf vom 6. Juli 2010.

Insgesamt war das also in vier nacheinander von verschiedenen staatlichen und politischen Instanzen erarbeiteten Gesetzentwürfen in der gleichen Weise vorgesehen: Ärzte, Kliniken und Krankenkassen als Patientenvertreter bewerten den Nutzen der Medikamente. Praxisnah. Patientennah und überaus sinnvoll.

Doch dann veröffentlichte der Verband der Arzneimittelhersteller vfa am 30. August 2010 seinen eigenen Gesetzentwurf. Der Verband vertritt die wirtschaftlichen Interessen derjenigen Unternehmen, die neue Arzneimittel entwickeln und auf den Markt bringen. Und dieser Entwurf sah nun plötzlich vor, dass ausgerechnet das Bundesministerium für Gesundheit den Nutzen neuer Medikamente bewerten sollte.

Ja, wieso denn ausgerechnet so ein schwerfälliger Apparat mit über 700 Bürokraten, mag man sich fragen. Doch die Überlegungen, die dahinter standen, sind absolut klar: Im Ministerium sitzen Beamte. Und auf die kann man ja viel leichter Einfluss ausüben als auf ein Gremium von unabhängigen Ärzten und Krankenkassenvertretern, zumal ja in dem Ministerium einige Angestellte der Pharmaindustrie als Lobbyisten sitzen. Wenn die den Nutzen neuer Medikamente bewerten, kann man gewiss sein, dass dabei dann das Richtige herauskommt, besonders wenn man vorher noch an den richtigen Stellschrauben gedreht und die richtigen Knöpfe gedrückt hat.

Kaum hatte der Verband seinen Entwurf vorgelegt, da hatte auch die Bundesregierung nichts Eiligeres zu tun, als auch ihren eigenen Gesetzentwurf umzuschreiben. Und es dürfte niemanden wundern, wenn man nun konstatiert, dass die Bundesregierung wortgetreu die Formulierung des Verbands der forschenden Arzneimittelhersteller übernahm.

In vier hintereinander entwickelten Entwürfen hatte die Bundesregierung also stets an der für die Beitragszahler günstigen Nutzenbewertung festgehalten. Dann meldeten sich die Lobbyisten nur ein einziges Mal mit einem Gegenvorschlag, der den wirtschaftlichen Nutzen des ganzen Vorgangs von den Beitragszahlern zu den Lobbyisten verschob, und schon kuschte die Koalition. Es ist auch völlig egal, welche Koalition das gerade ist. In diesem Fall war es die CDU/CSU-FDP-Koalition. Aber das Prinzip des Kuschens vor den Verbänden gilt ebenso für jede andere Regierung.

Sie setzte sich noch nicht einmal zur Wehr - auch noch nicht einmal zur Wahrung des Scheins, und um wenigstens den oberflächlichen Eindruck zu erwecken, sie habe wenigstens tapfere Gegenwehr geleistet. Nein, sie knickte einfach sang- und klanglos ein.

War bis dahin vorgesehen, dass der G-BA eine Verfahrensordnung zur Nutzenbewertung vorgibt und das unabhängige Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) die Nutzenbewertung im Auftrag des G-BA durchführen sollte, so hieß es nun in dem Änderungsantrag der Koalitionsfraktion:

Das Bundesministerium für Gesundheit regelt durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrats das Nähere zur Nutzenbewertung.

Die Rechtsverordnung des Ministeriums legt fest, "welche Grundsätze für die Bestimmung der Vergleichstherapie gelten, in welchen Fällen zusätzliche Nachweise erforderlich sind sowie unter welchen Voraussetzungen Studien welcher Evidenzstufe zu verlangen sind". Auch weichere Kriterien wie die Patientenzufriedenheit sollen nun eine größere Rolle bei der Nutzenanalyse spielen.

"Ich breche das Preismonopol der Pharmaindustrie" doch nicht

Hinzu kommt eine Quasi-Ausstiegsklausel für die Hersteller aus der Nutzenbewertung. Geplant ist, dass Arzneimittel "mit nur geringer wirtschaftlicher Bedeutung" von der Bewertung ganz befreit werden. Die Einschätzung, wie stark sich ein Medikament verkauft, soll der Hersteller selbst liefern. Und man darf nun ganz sicher sein, dass alle Hersteller der Ansicht sind, dass alle ihre Medikamente von ganz und gar geringer wirtschaftlicher Bedeutung sind…

Im Frühsommer 2010 hatte der Bundesgesundheitsminister noch geprahlt:

Ich breche das Preismonopol der Pharmaindustrie!

Da hatte er wohl den Mund zu voll genommen.

Stattdessen sorgte er dafür, dass die Nutzenbewertung neuer Arzneimittel per Rechtsverordnung festgelegt wurde und die eigentlich zuständigen Kontrolleure, der Gemeinsame Bundesausschuss der Selbstverwaltung von Ärzten und Kassen und das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) entmachtet wurden. Große Klappe, aber nix dahinter…

Die Umkehr der Beweislast in Bezug auf den Nachweis eines Zusatznutzens von Arzneimitteln führt dazu, dass der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) künftig nachweisen muss, dass ein Arzneimittel keinen Zusatznutzen hat. Das macht es nahezu unmöglich, Arzneimittel auszuschließen, geht zu Lasten der Arzneimittelausgaben der gesetzlichen Krankenversicherungen und stellt eine Gefährdung der Patientinnen und Patienten dar.

Die Hersteller können weiterhin wie schon immer die Preise selbst festsetzen. Zur Einführung bedarf es keiner Kosten-Nutzen-Bewertung. Sie spielt erst eine Rolle, wenn die Vertragsverhandlungen zwischen dem Spitzenverband der Krankenkassen und Pharmaherstellen gescheitert sind und ein Schiedsspruch erfolgt ist. Dann kann sie, muss aber nicht erfolgen.

Auch die Ärzte waren entsetzt über diese Regelung. Der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, der Berliner Professor Wolf-Dieter Ludwig, kritisierte gegenüber der Frankfurter Rundschau1, dass die Pharmaindustrie fortan die Studien selbst liefert, um Medikamente zuzulassen:

Wir wissen aus zahlreichen klinischen Untersuchungen, dass bei klinischen Studien, die der Hersteller finanziert, getrickst wird und negative Ergebnisse zur Wirksamkeit und zu unerwünschten Nebenwirkungen neuer Arzneimittel häufig nicht publiziert werden.

Seine Forderung, die Planung, Durchführung und Auswertung dieser klinischen Studien müsse nach der Zulassung unabhängig vom Hersteller erfolgen, verhallte allerdings ungehört in der Lobby des Bundestags…

So wurde die Verbandsformulierung Teil des Gesetzes, und die Kosten der Versicherten stiegen um mehrere Milliarden Euro. Und da kann nun niemand sagen, dass aus dem Wettstreit der Interessen a posteriori Gemeinwohl herauskommt.

Da kommt, ganz im Gegenteil, am Ende der Sieg höchst partikularer Interessen der Pharmaindustrie über das Gemeinwohl der Mehrheit der Bevölkerung heraus. Wenn’s darauf ankommt, hat das Gemeinwohl, haben die Interessen der breiten Bevölkerung in der angeblich so demokratischen Politik keine Chance.