Das geplante Referendum als Scheitelpunkt der Krise

Geopolitischie Kräfte (6.3.2014). Bild: Spiridon Ion Cepleanu/CC-BY-SA-3.0

Was wird aus den ukrainischen Streitkräften auf der Krim?

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Seit dem Beginn der russischen Invasion am 28. Februar hat es auf der Krim mehrere Zwischenfälle gegeben, allerdings kam es noch nicht zu einem scharfen Schusswaffengebrauch. Für den 16. März hat die pro-russische Regionalregierung auf der Halbinsel Krim ein Referendum über die Unabhängigkeit der Region und ihren Anschluss an Russland angesetzt. Was wird danach aus den auf der Krim stationierten ukrainischen Truppen?

Am 27. Februar 2014 stürmten bewaffnete Demonstranten, die sich als "Selbstverteidiger der russischsprachigen Bevölkerung der Krim" bezeichnen, das Regionalparlament in Simferopol und riefen Sergei Aksjonow von der Partei "Russische Einheit" zum neuen Ministerpräsidenten der Krim aus. Die neue Regionalregierung setzte für den 16. März ein Referendum über die Ablösung der Autonomen Region Krim aus dem ukrainischen Nationalstaat und einen Anschluss an Russland an. Dies betrifft 2,4 Millionen Einwohner, die auf einer Fläche von 26.844 qkm leben.

Obwohl die russisch-stämmige Bevölkerung fast 60 Prozent des Elektorats stellt, besagen aktuelle Umfragen, dass nur 40 Prozent im Sinne der Regionalregierung abstimmen werden. Allerdings ist davon auszugehen, dass das Wahlergebnis im Sinne Wladimir Putins manipuliert wird. Schon wird den Staatsbediensteten auf der Krim eine traumhafte Gehaltserhöhung um 300 Prozent versprochen. Nach den wiederholten Vorfällen der vergangenen Tage ist absehbar, dass keine unabhängige Kontrolle durch ausländische Wahlbeobachter der UN oder der OSZE gegeben sein wird.

Das Kalkül des russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin, seines Generalstabschefs General Walerij Wassiljewitsch Gerassimow und seiner Politikstrategen wie z. B. Wjatscheslaw Jurjewitsch Surkow scheint zumindest vorläufig aufzugehen. Ein pseudo-rechtlicher Mantel wird für das durch den russischen Einmarsch am 28. Februar 2014 geschaffene fait accompli konstruiert: Die Krim sagt sich - gemäß dem vermeintlichen Willen der Bevölkerungsmehrheit - von der Ukraine los und wird von Russland in sein Territorium einverleibt.

Dieses Szenario war schon in der ersten Hälfte der 1990er Jahre mehrfach von russischen Politikern angedacht worden. Dies wäre - abgesehen von der deutschen Wiedervereinigung, der tschechoslowakischen Teilung und der Loslösung des Baltikums aus der russischen Föderation - die erste gravierende Veränderung der europäischen Grenzen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

Zwar versprach der neue ukrainische Ministerpräsident Arsenij Petrowitsch Jazenjuk am 9. März trotzig: "Das ist unser Land, wir werden keinen Zentimeter davon aufgeben." Aber diesem Populismus widersprach sofort sein Verteidigungsminister Igor Tenjuk: Man habe nicht vor, ukrainische Militärverstärkungen zur Krim zu entsenden.

Damit würden die auf der Krim stationierten ukrainischen Streitkräfte zu "ausländischen" Truppen im "eigenen" Land, und es stellt sich die Frage nach ihrem weiteren Verbleib. So machte der pro-russische Stellvertretende Ministerpräsident der Autonomen Republik Krim, Rustam Temirgalijew, am 6. März in der Regionalhauptstadt Simferopol schon vor dem Referendum klar:

Da die Krim zu einem Territorium der Russischen Föderation geworden ist, sind ausschließlich die russischen Streitkräfte die einzigen legitimen bewaffneten Formationen auf dem Territorium der Krim. Die Streitkräfte anderer Staaten werden als Okkupanten mit allen daraus resultierenden Folgen betrachtet.

Und sein Regierungschef Sergej Aksjonow drohte:

Diejenigen, die sich nicht fügen, werden mit aller Strenge des Gesetzes zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen.

Drei Optionen sind denkbar:

  1. Die russischen Streitkräfte erobern durch Waffengewalt die ukrainischen Militärbasen.
  2. Die ukrainischen Soldaten geben ihre Militärbasen schließlich kampflos auf und gehen in Rente oder ins "ukrainische Exil"
  3. Die ukrainischen Soldaten geben ihre Militärbasen auf, zerstören ihr Militärgerät und gehen in russische Kriegsgefangenschaft.

Der bisherige Verlauf der Annexion

Der amerikanische Militärgeheimdienst Defense Intelligence Agency hatte seit dem 18. Februar 2014 Indikationen für einen möglichen russischen Einmarsch auf die Krim erhalten. Dies berichtete DIA-Direktor Generalleutnant Michael T. Flynn, nachdem der Geheimdienst kritisiert worden war, er hätte die Krise verschlafen (Die angeblich übermächtigen US-Geheimdienste und der Ukraine-Konflikt.) Worauf sich die Bedrohungsanalyse stützte, wurde nicht bekannt. Sollte die Behauptung richtig sein, begann die russische Regierung mit ihren Angriffsvorbereitungen also schon zu einem Zeitpunkt, als Wiktor Janukowitsch noch ukrainischer Präsident war.

In diesem Zusammenhang soll nicht unerwähnt bleiben, dass sich der Supreme Allied Commander Europe, US-General Philip Breedlove, nur einen Tag vor dem russischen Angriffsbeginn, am 27. Februar 2014, im DIA-Hauptquartier in Washington persönlich über die Lageentwicklung informiert hat.

Ab dem 28. Februar wurden die auf der Krim stationierten Einheiten der russischen Schwarzmeerflotte durch russische Truppen verstärkt. Nach US-Angaben befinden sich mittlerweile mindestens 20.000 Angehörige der russischen Streitkräfte auf der Halbinsel. Demgegenüber behauptet die russische Regierung frech, es gäbe keine russische Invasion, keinen Krieg und keinen Bruch des Völkerrechts. Stattdessen versucht die russische Regierung die NATO für die Zuspitzung der Lage verantwortlich zu machen. In einer Erklärung des Moskauer Außenministeriums vom 3. März 2014 hieß es:

Wir sind mit dieser am 2. März abgegebenen Erklärung (der NATO, G. P.) kategorisch nicht einverstanden, in der die Russische Föderation für die 'militärische Eskalation auf der Krim in Verletzung der völkerrechtlichen Prinzipien' verurteilt wird. (…) Wir sind der Ansicht, dass eine derartige Position nicht zur Stabilisierung der Lage in der Ukraine beiträgt und nur jene Kräfte begünstigt, die die gegenwärtige Entwicklung für die Erlangung ihrer verantwortungslosen politischen Ziele missbrauchen wollen.

Tatsächlich wurden mindestens 2.000 bis 3.000 Russen über die beiden Fliegerhorste Belbek und Gwardejsk bei Sewastopol mit Transportflugzeugen und Hubschraubern der Transportfliegerflotte eingeflogen. Durch ihre personelle und materielle Überlegenheit konnten die russischen Besatzungstruppen bisher einen scharfen Schusswaffengebrauch vermeiden, was anscheinend ein wichtiges militärpolitisches Ziel der Militärplaner war.

Die ukrainischen Streitkräfte (Sbrojni syly Ukrajiny) hatten der russischen Invasion wenig Widerstand entgegenzusetzen. Dafür gab es mehrere Gründe:

  1. Die ukrainischen Soldaten fühlten sich durch das russische "Brudervolk" aus historischen Gründen nicht bedroht: Am 3. August 1992 wurde die damalige sowjetische Schwarzmeerflotte aufgeteilt auf die ukrainische Marine und die russische Schwarzmeerflotte. Allerdings blieben die russischen Truppenteile auf ukrainischem Territorium. So nutzen beide Flotten bis heute dieselben Flottenstützpunkte. Quasi liegt auf der einen Seite des Kai das ukrainische U-Boot und auf der anderen Seite das russische U-Boot. Außerdem ist die Marine von beiden Staaten mit denselben Schiffstypen ausgerüstet, die Soldaten haben dieselbe Ausbildung und führen gemeinsame Flotten-Übungen durch, wie z. B. die jährliche Stabsrahmenübung "Fahrwasser des Friedens".
  2. Der neue Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Interimspräsident Alexander Walentinowitsch Turtschinow, ist erst seit dem 23. Februar im Amt. Dieses Datum markiert die politische Wende in der Ukraine. Allerdings ist Turtschinow militärpolitisch unerfahren. Gleiches gilt für den seit dem 27. Februar amtierenden Ministerpräsident Arsenij Petrowitsch Jazenjuk, der das Amt von Serhij Arbusow übernahm, der seinerseits erst seit dem 28. Januar als Regierungschef fungierte.

Als Verteidigungsminister agiert seit dem 27. Februar Admiral Igor Tenjuk als Nachfolger von General Wladimir Zamana, der erst am 22. Februar das Amt von Pawlo Lebedew übernommen hatte. Am 6. März wurden die drei Vizeverteidigungsminister Alexander Olijnyk, Wladimir Moscharowski und Arturo Franzisko Babenko aus dem Dienst entlassen.

Nach russischen Angaben hatten sie sich gegen einen möglichen Einsatz der ukrainischen Streitkräfte gegen die pro-russische Bevölkerung ausgesprochen. Diese Darstellung kann derzeit nicht auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft werden. Zum neuen Vizeverteidigungsminister wurde noch am gleichen Tag Oberst a. D. Pjotr N. Neched ernannt, der dazu aus seinen Ruhestand zurückgeholt wurde. Möglicherweise konnten die politischen Kommandobehörden ("Stawka") aufgrund dieser Personalrevirements auf die russische Invasion nur zu spät oder nicht angemessen reagieren

* Eigentlich verfügt der ukrainische Generalstab über acht Abteilungen, darunter eine Aufklärungsabteilung (J-2) und eine Operationsabteilung (J-3), die für Lagebeurteilung und Operationsführung zuständig sind. Zur Befehlsübermittlung stehen moderne Kommunikationssysteme wie das Single Automated Command and Control System (SAC2S) und das Single Digital Integrated Network zur Verfügung.

Aber die ukrainische Militärführung ist angesichts der bürgerkriegsähnlichen Zustände im Land politisch gespalten in Anhänger der alten und Anhänger der neuen Regierung, sowie in ukrainische Patrioten und russische Sympathisanten. Damit ist die Militärführung taktisch-operativ handlungsunfähig.

Die russische Nachrichtenagentur RIA Novosti zitierte dazu ein anonym gebliebenes Mitglied des ukrainischen Rates für nationale Sicherheit mit folgenden Worten: "Ein Großteil der Generäle und Offiziere des Verteidigungsministeriums der Ukraine ist gegen die Politik der gegenwärtigen Machthaber in Kiew, die sich auf radikale nationalistische Organisationen stützen und auf den Bruch der gutnachbarlichen Beziehungen zu Russland orientiert sind."

Auch diese Darstellung lässt sich derzeit nicht überprüfen. Allerdings gab es auch in der ukrainischen Spitzen-Generalität in den letzten Wochen auffällige Personalveränderungen: Der Generalstabschef Generaloberst Wolodimir Zaman wurde am 19. Februar 2014 auf Befehl des damaligen Präsidenten Janukowitsch durch den Marinechef Admiral Juri Iljin ersetzt, dieser wiederum wurde am 28. Februar auf Befehl des neuen Interimspräsidenten Turtschinow vom Generalleutnant Mykhailo Kutsyn abgelöst. Angeblich hatte Admiral Iljin einen Herzinfarkt erlitten.

Der Heereschef Generaloberst Gennadiy Vorobyov war noch von Janukowitsch Mitte Januar 2014 entlassen worden. Als Luftwaffenchef fungiert derzeit Generaloberst Baidak Yurii Abrahamovycz. Aufsehen erregte der Fall von Konteradmiral Denis Berezovski: Nachdem er erst am 1. März zum neuen Kommandeur der ukrainischen Marine ernannt worden war, ergab er sich bereits am folgenden Tag den russischen Streitkräften. Er wurde durch Admiral Sergei Gaiduk abgelöst. Für die Kriegführung im Krim-Gebiet wäre das Südkommando der ukrainischen Streitkräfte in Odessa zuständig. Dessen Kommandeur ist seit Juli 2012 unverändert Generalleutnant Anatoly Sirotenko.

* Seit dem Ende des Kalten Krieges 1991 wurden die ukrainischen Streitkräfte von 800.000 auf rund 150.000 Mann reduziert, bis 2017 war eine weitere Reduzierung auf nur noch 70.000 Soldaten vorgesehen. Daher ist die Einsatzbereitschaft der Streitkräfte in den letzten Jahren gesunken. So führte der Niedergang der ukrainischen Wirtschaft zu einer Unterfinanzierung der Streitkräfte, deren jährlicher Haushalt "nur" bei rund 1,12 Milliarden Euros liegt. Gerüchten zufolge hat der gestürzte Staatspräsident Wiktor Janukowitsch die ukrainischen Streitkräfte und Nachrichtendienste bewusst ruiniert, um das Land sturmreif zu machen.

Über den realen Zustand der ukrainischen Streitkräfte berichtete jüngst der Journalist Benjamin Bidder auf "Spiegel Online":

"Die Streitkräfte sind ebenso von Korruption zerfressen wie der Rest des Staates. Für eine Beförderung zum Brigadekommandeur müssen Offiziere bis zu 12.000 Dollar Bestechungsgeld an ihre Vorgesetzten bezahlen, berichten ehemalige Militärs. Das Geld zweigen sie dann an anderer Stelle wiederum bei ihrer Einheit ab.

Kiew hat die Mobilisierung der Armee verkündet. Ob die Ukraine aber tatsächlich überhaupt über Verbände verfügt, die den Russen Paroli bieten könnten, daran zweifeln auch Politiker der neuen Regierungskoalition. 'Wir haben es in 22 Jahren nicht geschafft, eine richtige Armee aufzubauen', sagt der Abgeordnete Gennadij Moskal. 'Ich vertraue ihnen ein Staatsgeheimnis an: Bei uns hebt kein Flugzeug mehr ab, und kein Panzer springt mehr an.'"

Daher konnten die ukrainischen Streitkräfte auch keine Verstärkungen auf die Krim heranführen. Lediglich die regionalen Polizeikräfte des Innenministeriums unter Führung von Nikolai Balabán könnten - ausgenommen das lokale Berkut-Bataillon - eine Reserve darstellen.

* Auf der Krim sind außer der Marineinfanterie (Morskaya Pehota Ukrainyi) keine weiteren ukrainische Kampf- und Bodentruppen stationiert, die nennenswerten Widerstand hätten leisten können.

* Demgegenüber sind die russischen Kräfte überlegen: Zur Schwarzmeerflotte unter dem Kommando von Admiral Alexander Witko zählen mittlerweile mehr als 20.000 aktive Soldaten und über 40 Schiffe. Schon vor der Invasion verfügte die russische Marine auf der Krim über eine Nutzungsfläche von 180 km2, davon gehörten 30 km2 zum Hafengelände in Sewastopol.

Die zusätzlichen Verstärkungskräfte tragen keine Hoheits- und Einheitsabzeichen auf ihrer Felduniform und verstoßen damit gegen die Bestimmungen zum Kombattantenstatus der Genfer Konvention von 1948. Nach Vorgehen und Ausstattung handelt es sich bei diesen Kräften zumindest teilweise um Spezialeinheiten, etwa die 3. Speznaz-Brigade des russischen Militärgeheimdienstes GRU aus Toljatti bei Samara, vermutet der frühere russische Militärexperte Igor Sutyagin, der heute für das Royal United Services Institut (RUSI) in London arbeitet.