"Ausgewogene Unzufriedenheit"

Henry Kissinger plädiert für mehr Autonomie der Regionen als Basis einer Kompromisslösung für die Ukraine

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Der Fürther Henry Kissinger war von 1969 bis 1973 Sicherheitsberater Richard Nixons und von 1973 bis 1977 amerikanischer Außenminister. Wegen seiner Rolle beim Pinochet-Putsch in Chile, der indonesischen Invasion in Osttimor, der Bombardierung Kambodschas während des Vietnamkrieges und seines Umgangs mit dem Militärregime in Argentinien steht er bis heute in der Kritik. Die hindert den mittlerweile neunzighährigen studierten Politikwissenschaftler jedoch nicht daran, immer wieder mit neuen Ideen aufzuwarten.

Die aktuellste dieser Ideen veröffentliche er letzte Woche in einer Denkschrift für die Washington Post. Darin kritisiert er, dass die Politik den Konflikt um das Land zu sehr als Entweder-Oder-Situation betrachtet: Entweder die Ukraine gehört zum Osten - oder zum Westen. Seiner Ansicht nach würde es bei der Konfliktlösung helfen, wenn man das Land stattdessen als "Brücke" sehen und eine Kompromisslösung anstreben würde, die zu einer "ausgewogenen Unzufriedenheit" aller Beteiligten führt.

Russland sollte sich seiner Ansicht nach darüber klar sein, dass eine "militärische Lösung" in eine neue Isolation des Landes führen würde. Und der Westen müsse einsehen, dass eine Dämonisierung von Wladimir Putin nur ein "Alibi für das Fehlen einer politischen Linie" ist und dass die Ukraine für Russland schon aus historischen und sicherheitsstrategischen Gründen kein Land wie jedes andere sein kann. Besonders hart geht er mit der Europäischen Union ins Gericht, deren Politik maßgeblich dazu beitrug, "dass aus Verhandlungen eine Krise wurde".

Die Wurzel des Konflikts liegen seiner Ansicht nach aber auch darin, dass ukrainische Politiker verschiedener Couleur versuchten, den sehr unterschiedlichen Regionen des Landes ihren Willen aufzuzwingen. Der Konflikt könnte seiner Ansicht nach deshalb unter anderem dadurch entschärft werden, dass den Regionen eine weitaus größere Selbständigkeit zugestanden wird, als die, über die sie bislang verfügen. Gestaltet man die Autonomie weitgehend genug, könnte sie das Problem lindern, dass die Ukraine in ihren heutigen Grenzen ein ethnisch und ökonomisch sehr heterogenes Gebilde ist, in dem ein Lemberger potenziell etwas ganz anderes will, als ein Donezker.

Mit entsprechender Kultushoheit könnten die russischen Mehrheiten in Oblasten wie Luhansk, Donezk und Odessa beispielsweise selbst entscheiden, in welcher Sprache ihre Kinder in den Schulen unterrichtet werden. Dann könnte es einem Galizier gleichgültiger sein, wenn in Kiew ein Mann aus Charkow regiert - und ein orthodoxer Russe aus Luhansk müsste weniger um seiner Rechte fürchten, wenn ein katholischer Staatspräsident aus Chernowitz gewählt wird.

Ob sich das neue Regime in Kiew, das Russisch als Amtssprache abschaffen wollte, auf so einen Kompromiss einlassen würde, ist offen. Dazu müsste der Vorschlag wahrscheinlich erst einmal offiziell auf den Tisch gebracht werden. Aber auch in den Regionen könnte man möglicherweise misstrauisch sein und einem Anschluss an Russland den Vorzug gegenüber einer Autonomie geben, nachdem das neue Regime in Kiew bereits Truppen aufmarschieren und damit erkennen ließ, dass es bereit wäre, seine Vorstellungen im Zweifelsfall gewaltsam durchzusetzen.

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