Sind Pflanzen dumm wie Stroh?

Nicht nur Menschen oder Tiere, sondern auch Pflanzen können komplexe Entscheidungen treffen

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Schon in den 1990ern wiesen Forscher nach, dass Pflanzen gezielt Gifte gegen Fressfeinde einsetzen. Eine neue Studie zeigt nun, dass Pflanzen sogar ihre eigenen Samen abtöten, um einen Befall mit Parasiten zu verhindern.

Pflanzen können weit mehr, als plump in der Sonne rumstehen - sie können sogar töten: Mitte der 1980er kam es in Südafrika zu ziemlich merkwürdigen Todesfällen bei Kudus. Das sind Antilopen, die bevorzugt Blätter von Akazien-Bäumen fressen - und das Fleisch der Kudus wiederum wird bevorzugt von Einheimischen verspeist. Um auf die steigenden Fleischpreise zu reagieren, züchteten viele Farmer die Tiere in Gehegen. Damit begann das große Kudu-Sterben - und das Rätselraten um die Ursache. Denn weder schießwütige Jäger noch hungrige Löwen oder gefährliche Krankheiten waren für den Tod der über dreitausend Tiere verantwortlich.

Auch der Biologie Wouter van Hoven kam nach langer und zermürbender Forschungsarbeit auf keinen grünen Zweig. Wie so oft half der Zufall nach: Während van Hoven durch die Savanne wanderte, beobachtete er freilaufende Giraffen. Die Langhälse ernähren sich ebenfalls von Akazien, essen aber nie länger als zehn Minuten von einem Baum. Und wenn sie den Baum wechseln, dann stets gegen die Windrichtung - ein Verhalten, das den Kudus in ihren engen Gehegen kaum möglich war.

Warum aber starben die Kudus? Akazien-Bäume wehren sich mit Giftstoffen gegen ihre Fressfeinde. Wenn die Tiere zu viele Blätter abbeißen und somit die Existenz einer Akazie bedroht ist, dann erhöht diese massiv die Konzentration des giftigen Bitterstoffs Tannin in ihren Blättern. Zugleich setzt sie das farblose Gas Ethen frei, das über den Wind zu anderen Akazien-Bäumen gelangt. Die umliegenden Bäume riechen den "Gas-Alarm" und erhöhen sofort die Produktion ihrer Giftstoffe. So konnte van Hoven gleichermaßen das Verhalten der Giraffen und das Sterben der Kudus erklären.

Das Beispiel zeigt, dass Pflanzen aktiv ihre Umwelt wahrnehmen und sogar über Gerüche miteinander kommunizieren können. Einige Forscher sprechen daher von einer "Pflanzenintelligenz". Aber was ist "Intelligenz"? Der Pflanzenexperte Anthony Trewavas aus Edinburgh erklärt hierzu kurz und bündig: "Intelligenz ist die Fähigkeit, Probleme zu lösen. Und das können Pflanzen definitiv." Natürlich erleben die Pflanzen dabei nichts bewusst, aber sie scheinen eine deutliche Sensitivität für Reize zu haben - und sogar ein strukturelles Gedächtnis. Das jedenfalls legt eine aktuelle Studie nahe.

Das raffinierte Verhalten der Berberitze

Forscher des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ) in Leipzig behaupten derzeit, dass sie den ersten wissenschaftlichen Nachweis für komplexes Verhalten bei Pflanzen erbracht haben. Die Studie erschien im US-Fachblatt "American Naturalist", einem der führenden Wissenschaftsjournale für theoretische Ökologie. Gegenstand der Studie ist die Gewöhnliche Berberitze (Berberis vulgaris) eine Strauchart, die in weiten Teilen Europas vorkommt und eher unter dem Namen "Sauerdorn" bekannt ist. Einer der größten natürlichen Feinde der Berberitze ist die Sauerdorn-Bohrfliege (Rhagoletis meigenii). Die Sauerdorn-Bohrfliege trägt ihren Namen nicht zufällig: Die Fliegen stechen die Beeren des Sauerdorns auf, um darin ihre Eier abzulegen. Die geschlüpften Larven des Parasiten finden dann ein wahres Fressparadies vor und verputzen oft alle Samen, die sich in der Beere befinden.

Und wie wehrt sich der Sauerdorn? Die Beeren der Pflanze verfügen im Regelfall jeweils über zwei Samen. Der Sauerdorn ist nun in der Lage, die Entwicklung der Samen zu stoppen, um damit Energie zu sparen. Diese Fähigkeit wendet der Sauerdorn nun gezielt an, um die Larven zu bekämpfen: Ist die Pflanze vom Parasiten befallen, dann lässt sie einen der Samen absterben, so dass auch der Parasit stirbt - anschließend kann sie den zweiten Samen retten.

Diese Taktik wendet der Sauerdorn allerdings nicht wahllos an: Die Forscher öffneten Tausende von Beeren und untersuchten anschließend die Anzahl der Samen und das Verhalten des Sauerdorns - dabei machten sie eine verblüffende Entdeckung: Wenn die angebohrte Beere zwei Samen enthält, dann tötet die Pflanze in durchschnittlich 75% aller Fälle den befallenen Samen ab, um den zweiten Samen zu retten. Wenn die angebohrte Beere jedoch nur einen Samen enthält, dann tötet die Pflanze in lediglich 5% aller Fälle den befallenen Samen ab.

Mit Computerberechnungen konnten die Forscher zeigen, dass die befallenen und damit "gestressten" Pflanzen anders reagieren als die "ungestressten", weil nicht befallenen Pflanzen: "Würde die Berberitze ihre Frucht mit nur einem, aber befallenen Samen abtöten, dann hätte sie die gesamte Frucht umsonst angelegt. Stattdessen 'spekuliert' sie offenbar darauf, dass die Larve von selbst abstirbt, was auch vorkommen kann. Minimale Chancen sind besser als gar keine", erläutert Dr. Hans-Hermann Thulke vom UFZ. "Dieses Handeln mit Vorausschau, in dem erwartete Verluste und äußere Bedingungen abgewogen werden, hat uns sehr überrascht. Pflanzliche Intelligenz rückt damit in den Bereich des ökologisch Möglichen, lautet die Botschaft unser Studie."

Nach wie vor rätselhaft ist für die Forscher, woher die Pflanze weiß, was ihr nach dem Befall mit der Sauerdorn-Bohrfliege droht. Auf jeden Fall verdichten diese und andere Forschungsergebnisse die Hinweise darauf, dass Pflanzen weit komplexer sind, als gemeinhin angenommen wird. Dumm wie Stroh sind lebendige Pflanzen offenbar nicht.

Patrick Spät lebt als freier Journalist und Buchautor in Berlin.