Massenhafte Altersarmut vorprogrammiert

Deutschland, 1925: In einem Tagesheim für Sozialrentner. Foto: Bundesarchiv, Bild 183-T0126-513; Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE

Viel Gegacker und wenig Eier - Renten-Reformen: "Von einem Ausbau sozialer Wohltaten zu reden, ist ziemlich zynisch." Interview mit Wolfgang Lieb

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Mit der "Mütter-Rente" und der "Rente mit 63" hat die Bundesregierung Reformen auf den Weg gebracht, die in der Öffentlichkeit heftig umstritten sind. Üblicherweise äußern sich Neoliberale und Wirtschaftsverbände zu den Änderungen negativ, aber auch von linker Seite gibt es grundlegende Kritik. Telepolis sprach mit dem Publizisten und Mit-Betreiber der NachDenk-Seiten, Wolfgang Lieb.

Herr Lieb, die große Koalition hat die Mütterrente und die Rente mit 63 eingeführt. Wird man damit die für die Zukunft drohende Altersarmut wirkungsvoll bekämpfen können oder sind solche Maßnahmen Augenwischerei?

Wolfgang Lieb: Gegen die durch die derzeitige Gesetzeslage programmierte Zunahme von Armut im Alter helfen die beiden Reförmchen gewiss nicht: Etwa 9,5 Millionen Mütter (von der Zahnarztgattin bis zur Zahnarzthelferin), deren Kinder vor 1992 geboren wurden, sollen einen Rentenpunkt mehr bekommen (statt drei Punkte für danach geborene Kinder). Das bedeutet im Westen Deutschlands pauschal einen Zuschlag zur Rente um rund 28 Euro und im Osten um etwa 26 Euro - wohlgemerkt im Monat. Damit kann niemand große Sprünge machen.

Die Rente mit 63 ist zwar für die Begünstigten eine Verbesserung, die man nicht klein reden und den Betroffenen auch gönnen sollte, sie ist aber keine Lösung des Rentenproblems und schafft im Gegenteil neue Ungerechtigkeiten: Von der Ausnahmeregelung profitieren ganz überwiegend (zu 86 Prozent) Männer, die ohnehin eine höhere Rente als die Frauen beziehen.

Ungerecht zum Anderen ist sie aber auch deshalb, weil die Unterscheidung zwischen Beziehern von Arbeitslosengeld I und Arbeitslosengeld II bei der Errechnung der erforderlichen 45 Beitragsjahre zu einer doppelten Bestrafung von solchen Arbeitslosen führt, die längere Zeit keinen Arbeitsplatz gefunden haben.

Warum sollten nun gerade diejenigen, die in ihrem Arbeitsleben eher Glück hatten und allenfalls kurze Zeit arbeitslos waren, bei der Rente besser gestellt werden, als diejenigen, die das Pech hatten, zum Beispiel als ältere Arbeitnehmer keine Chance mehr auf dem Arbeitsmarkt mehr bekommen zu haben, und deshalb die 45 Beitragsjahre trotz aller Bemühungen nicht erreichen können?

Mehrere Sozialverbände haben sich wegen dieser Ungerechtigkeiten gegen die Rente mit 63 ausgesprochen und plädieren stattdessen dafür, die Rente ab 67 komplett auszusetzen.

Welches Kalkül steckt dann hinter den Rentenreformen?

Wolfgang Lieb: Jeder Koalitionspartner bediente seine Wählerklientel: Die Union mit der "Mütterrente" ihre treuesten Wählerinnen, nämlich ältere Frauen, und die SPD die gewerkschaftlich organisierte männliche Facharbeiterschaft in Großbetrieben. Die SPD wollte mit ihrem Wahlversprechen einer "Rente mit 63 nach einem langen Arbeitsleben" - so die pathetische Formulierung von Sigmar Gabriel - die bis dahin immer noch ziemliche einheitliche Ablehnungsfront der Gewerkschaften gegen die Rente mit 67 aufweichen.

Außerdem ist aus meiner Sicht die "abschlagsfreie Rente mit 63" ein politisches Ablenkungsmanöver der SPD, denn sie hält grundsätzlich an ihrem zerstörerischen rentenpolitischen Kurs fest, nämlich an der nach wie vor festgeschriebenen Senkung der gesetzlichen Rente auf das Niveau (Netto vor Steuern) von 43 Prozent bis zum Jahr 2030. Nicht einmal die im Sommer 2013 versprochene Stabilisierung des Rentenniveaus auf derzeitigem Stand haben die Sozialdemokraten durchsetzen können.

Die aufgeregte Debatte täuscht schließlich auch noch darüber hinweg, dass diese Regelung noch hinter die derzeitig geltende Gesetzeslage zurückfällt: Nach § 154 Abs. 4 des Sechsten Sozialgesetzbuches müsste nämlich alle vier Jahre erst geprüft werden, ob die Anhebung der Regelaltersgrenze unter Berücksichtigung der Entwicklung der Arbeitsmarktlage sowie der wirtschaftlichen und sozialen Situation älterer Arbeitnehmer weiterhin vertretbar erscheint und die getroffenen gesetzlichen Regelungen bestehen bleiben können.

Wie sieht denn jenseits des politischen Theaterdonners die tatsächliche Situation der älteren Erwerbstätigen aus?

Wolfgang Lieb: Derzeit ist nur noch jeder achte Erwerbstätige im Alter von 63 Jahren voll erwerbstätig und nicht einmal ganze 10 Prozent der 64-Jährigen (Männer und Frauen) sind noch vollzeitbeschäftigt.

"Die Mütter-Rente müsste von allen Steuerzahlern finanziert werden"

Woraus und in welcher Höhe werden diese Rentenreformen finanziert?

Wolfgang Lieb: Die abschlagsfreie Rente mit 63, wohlgemerkt nach 45 Beitragsjahren wird komplett aus der Rentenkasse, also aus Beiträgen finanziert. Nach Schätzungen des Arbeitsministeriums würden die Kosten in diesem Jahr bei 900 Millionen Euro liegen und möglicherweise im Laufe der Zeit auf etwa 3 Milliarden Euro pro Jahr anwachsen. Wie viele Erwerbstätige es sich leisten können vorzeitig in Rente zu gehen oder wie viele von ihren Arbeitgebern in Rente geschickt werden, steht in den Sternen.

Die Mütter-Rente ist mit über 6 Milliarden Euro pro Jahr die teuerste "Reform", sie wird zunächst komplett von den Beitragszahlern getragen und erst in fünf Jahren soll der Bundeszuschuss zur Rente um bis zu 2 Milliarden aufgestockt werden. Dieser staatliche Zuschuss für versicherungsfremde Leistungen, die aus der Rentenkasse bezahlt werden, liegt derzeit bei 81 Milliarden Euro.

Der zusätzliche Rentenpunkt, der den Müttern herzlich gegönnt sei, erhöht deren Rente ohne eine beitragsbezogene Gegenleistung, denn es sollen ja die Erziehungszeiten für vor 1992 geborene Kinder honoriert werden. Es ist also letztlich eine familienpolitische Maßnahme zugunsten der vielfach benachteiligten Mütter der geburtenstarken Jahrgänge. Sie müsste aber von allen Steuerzahlern und nicht nur von den Beitragszahlern (also je zur Hälfte von Arbeitnehmern und Arbeitgebern) zur gesetzlichen Rentenversicherung finanziert werden.

Es ist also eine Reform, die eher die Rentenkassen belastet und die den Fiskus nicht viel kostet?

Wolfgang Lieb: Nach bisheriger Gesetzeslage hätte der Beitragssatz zu Beginn dieses Jahres von 18,9 auf 18,3 Prozent des Bruttolohnes sinken müssen. Die Reserven der Rentenkassen waren auf über 30 Milliarden gewachsen. In einem ziemlich zweifelhaften Gesetzgebungsakt wurde diese Senkung nach der ziemlich verzögerten Regierungsbildung holterdipolter vor Weihnachten bis 2018 ausgesetzt.

Das heißt die Finanzierung erfolgt in bedenklicher Weise ganz überwiegend über höhere Beiträge und künftig durch ein rascheres Absinken des Rentenniveaus in Richtung auf 43 Prozent der Rentenhöhe eines Durchschnittsverdieners nach 45 Beitragsjahren im Vergleich zu seinem heutigen durchschnittlichen Arbeitsentgelt.

"Horrorzahl von 60 Milliarden Mehrausgaben"

Aber die Wirtschaft beklagt doch, dass die Reformen mit erheblichen Mehrausgaben von Seiten des Staates verbunden sein werden...

Wolfgang Lieb: Das ist in mehrerlei Hinsicht eine Irreführung der Öffentlichkeit. Der Löwenanteil kommt - wie gesagt - aus den Rentenkassen, also von den Beitragszahlern und nicht aus den Steuern. Es geht also um einen Verteilungskonflikt zwischen Beitragszahlern und einer überschaubaren Gruppe von Rentnern und vor allem Rentnerinnen, gleichzeitig lässt sich damit wieder einmal der Konflikt zwischen Erwerbstätigen und Rentnern - also der Generationenkonflikt - schüren.

Um Angst und Schrecken zu verbreiten wird zunächst die Horrorzahl von 60 Milliarden Mehrausgaben in die Debatte geworfen. Dabei wendet man einen altbekannten Trick der Manipulation mittels Statistik an: Man addiert einen einzelnen Betrag über eine lange Zeitreihe und baut darauf, dass das zahlenunkundige Publikum allein schon von der Höhe des Betrages geschockt ist.

Ein realistisches Bild erhielte man nur, wenn man diese Zahl etwa mit der Entwicklung des Bundeshaushalts oder des Bruttoinlandsproduktes in Bezug setzte. Doch niemand kennt das BIP im Jahre 2020 oder später, genauso wenig kennt man die Höhe der Rentenbeiträge aus denen die "Reformen" bezahlt werden müssen. Die hängen nämlich von der Höhe der Löhne und der Beschäftigungslage ab.

Eine zusätzliche Irreführung der Öffentlichkeit besteht darin, dass man ganz unterschiedliche Änderungen der Rentengesetze in einen Topf wirft, also neben der "Mütter-Rente", der Rente mit 63 auch die seit langer Zeit anstehende Erhöhung der Erwerbsminderungsrente oder die Dynamisierung der Reha-Leistungen.

Warum hat sich dann die Wirtschaft so vehement gegen die Vorhaben der Regierung gewehrt?

Wolfgang Lieb: Dem Lager der Wirtschaftsverbände und ihrer Propagandaagenturen ging es beim Kampf gegen diese Regelungen von Anfang an nur darum, eine "Aufweichung" der Agenda-Reformen auf Teufel komm raus zu verhindern. Dieses Lager strebt nämlich sogar noch eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit an, nämlich eine Koppelung des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung.

Wie bewerten Sie also die Kampagne der Wirtschaftsverbände?

Wolfgang Lieb: Angesichts der geringen Beträge, die die "Mütter-Rente" oder die Erwerbsminderungsrente für die jeweils Begünstigten erhöht werden und angesichts der hohen Hürden für einen vorgezogenen Renteneintritt, von einem "Ausbau sozialer Wohltaten" zu reden, ist ziemlich zynisch.

Die Arbeitgeberseite und die meisten Medien setzen mit ihrer Kritik an diesen Mini-Reförmchen offenbar auf einen nun seit Jahren eingeübten geradezu masochistischen Reform-Reflex in Deutschland: Uns wurde ständig eingeredet, nur wenn es "uns" nach den "Reformen" schlechter geht, geht es "uns" wieder besser.