Ukraine: ein Musterfall von double standards...

...und ein Totalausfall staatsmännischer Kunst

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Es gab eine Zeit, da flogen die deutschen Herzen Michail Gorbatschow und - in seinem Gefolge - Russland zu. Ohne ihn hätte es die deutsche Wiedervereinigung nicht gegeben. Wir waren dankbar. Das Grauen des Zweiten Weltkriegs und die lähmende Nachkriegszeit waren zwar nicht vergessen, aber für das Deutschland der ausklingenden Kohl-Ära war Russland ein respektabler Partner geworden. Diese freundliche Grundstimmung hielt nicht an.

Unter amerikanischer Anleitung nörgelte die deutsche Politik bald wieder an Russland herum. Spätestens als Schröder seinen Neufreund Putin zum lupenreinen Demokraten adelte, war es chic, diesen und Russland zu kritisieren. Putin machte es seinen Kritikern allerdings auch nicht besonders schwer. Er ging stur seinen Weg, der mit den Wertvorstellungen des demokratischen und vorbildhaften Westens schwer vereinbar war.

Was immer Putin tat, es stand unter dem Generalverdacht des Bösen. Daran änderte sich auch nichts, als es Dank russischer Vermittlung gelang, einen drohenden Bombenkrieg abzuwenden (Syrien) oder einen brandgefährlichen Konflikt einzudämmen (Iran). Putin galt im Westen weithin als autoritäre Unperson.

"Seine" Olympischen Spiele wurden schon im Vorfeld schlechtgeredet. Petitessen wurden mit Häme bedacht (erinnert sei an den nicht aufgehenden olympischen Ring in der Eröffnungsfeier!). Die sonst allgegenwärtige Bundeskanzlerin "bestrafte" Putin mit ihrer Abwesenheit. Auch ansonsten konnte man den Eindruck gewinnen, dass die Pflege des deutsch-russischen Klimas den ehemaligen DDR-Bürgern Merkel und Gauck nicht gerade eine Herzensangelegenheit ist.

Obama, Putin: Stets war klar, wer der Sheriff ist und wer der Halunke

Demgegenüber wurden imperiale Ausbrüche der Weltmacht USA hierzulande wenn überhaupt, dann verschwurbelt kritisiert. Nie wurden sie als das bezeichnet, was sie tatsächlich waren - flagrante Völkerrechtsverstöße. Stein des Anstoßes war meist nicht der Krieg als solcher, sondern die Kriegskosten und die Unfähigkeit, angefangene Kriege ordentlich zu Ende zu bringen. Beim allfälligen politischen Schaulaufen zwischen Obama und Putin war stets klar, wer der Sheriff ist und wer der Halunke. Der eine stand für Demokratie und Freiheit, der andere für Staatsallmacht und Unterdrückung.

Wir leben seit Langem in einer Kultur der Vereinfachung, der double standards und der selbstgerechten Heuchelei. Der Vorteil liegt auf der Hand: Die Welt ist einfach: hie gut, da böse. Aber leider ist dieses Bild zu einfach.

Strategie der Machtausweitung

Tatsache ist nämlich, dass der Westen unter der Führung der USA und der Nato seit den 1990er Jahren (Zerfall der Sowjetunion) verstärkt eine Strategie der Machtausweitung und - spiegelbildlich dazu - eine Politik der Zurückdrängung Russlands verfolgt. In den letzten Jahren beteiligte sich zunehmend die EU an der Umzeichnung der geopolitischen Landkarte.

Auch Deutschland vergaß parallel mit seinem wirtschaftlichen Kraftzuwachs seine zurückhaltende Rolle. Jüngst waren sich Bundespräsident, Außenminister und Verteidigungsministerin an einem Wochenende(!) einig, dass Deutschland wieder mehr Verantwortung in der Welt übernehmen müsse. Auf russische Befindlichkeiten und aus der Geschichte erklärbare Ängste wurde im Gefühl gewachsener weltpolitischer Bedeutung wenig Rücksicht genommen.

Es war für Russland bereits eine schwerwiegende Veränderung seiner Sicherheitsarchitektur, als die DDR Teil des Nato-Systems wurde. Das widersprach westlichen Zusicherungen im Zusammenhang mit der russischen Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung. Schlimmer für Russland war, dass frühere Ostblockstaaten in die EU und sogar in die Nato aufgenommen wurden.

Auch Teile Ex-Jugoslawiens wurden dem westlichen Bündnissystem zugeführt. Altkanzler Schröder räumte jüngst selbstkritisch ein, dass die vorausgegangen Bombardements ein Verstoß gegen das Völkerrecht waren. In Grenznähe zu Russland wurden Raketenstellungen geplant (Tschechien, Polen) - natürlich ohne vorherige Konsultationen. In Georgien, südlicher Nachbar Russlands, wurde ein vom Westen ermutigter Abenteurer zu einem (missglückten) militärischen Abenteuer verlockt.

Länder im nahen und mittleren Osten wurden mit teilweise abenteuerlichen Begründungen in das geostrategische amerikanische Machtsystem eingebunden (Afghanistan, Irak, Libyen). Bei jedem dieser Schritte legte sich die Halsschlinge enger um Russland. Außerdem wurde im russlandfreundlichen Syrien ein desaströser Bürgerkrieg angeheizt und in Ägypten eine westorientierte Militärjunta reinstalliert. Nebenbei wurde ein Militärschlag gegen den Iran, der sich amerikanischem Druck bisher erfolgreich widersetzt hat, propagandistisch vorbereitet.

Diese Darstellung mag holzschnittartig vergröbert sein, aber sie skizziert die im letzten Vierteljahrhundert erfolgte Veränderung der globalen Machtbalance zu Lasten Russlands in Umrissen. Sie lässt erahnen, wie die russische Seele über Jahre hinweg aufs Äußerste gereizt worden ist. Doch der entkräftete russische Bär musste nach dem Zerfall des Sowjetimperiums in der Schwächephase der Gorbatschow/Jelzin-Ära zähneknirschend zuschauen.