Die Impetustheorie des Fußballs

Abb. 1: Flugbahn einer Kanonenkugel. Aus: W. H. Ryff, Bawkunst, Basel: Henricpetri, 1582. Bild: CC0 1.0

Aristoteles und der optimale Abstoß im Fußball

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Den Ball in die Tiefe des Raumes zu befördern, ist für einen Torwart gar nicht so einfach. Der Luftwiderstand macht sich bemerkbar, so dass der Ball nicht einem schönen parabolischen Flug, sondern einer komplexeren Flugkurve folgt. Mittelalterliche Gelehrte hätten sofort eine Erklärung dafür gehabt: die Impetustheorie der Ballistik.

Die kommende Fußballweltmeisterschaft ist eine gute Gelegenheit, um über die Dynamik von Geschossen (d.h. von Fußbällen!) in der Erdatmosphäre zu sinnieren. Ein für jeden gescheiten Torwart interessantes mathematisches Problem ist es, den Winkel des optimalen Abstoßes zu meistern. Wollte man den Ball so weit wie möglich weg vom Tor versetzen, betrüge der optimale Abstoßwinkel 45 Grad, wenn nicht die Luft dazwischen wäre.

Beim parabolischen Flug im Vakuum landet der Ball bei einem solchen Abstoßwinkel am weitesten vom Tor entfernt - das haben wir in der Schule gelernt. Luft hat aber eine Dichte von 1,2 kg per Kubikmeter (auf Meereshöhe und bei 15 Grad Celsius), das ist ein beachtlicher Wert. Wir merken nicht so richtig, wie schwer die Luftsäulen über unseren Köpfen sind, weil wir wie die Fische im Wasser in diesem Luftmedium mitschwimmen.

Die Dichte der umgebenden Luft wird aber beim Flug von Spielbällen auffällig, besonders beim Baseball, Fußball oder beim Golf. Es ist kein triviales Problem: Über die Physik solcher Spielarten sind Hunderte von Arbeiten publiziert worden. Torwarte kennen diese ausufernde Literatur sicherlich nicht, sie wissen aber intuitiv, wie man den Ball so trifft, dass der bestmögliche Abstoß zustande kommt.

Die Flugbahnen der postaristotelischen Physik

Einige von uns sind so von der Schule geprägt, dass wir die echten Flugbahnen von Spielbällen mit dem inneren Auge a priori als Parabel verkennen. Es fällt schwer zu begreifen, dass es eine Zeit gab, in der die wichtigsten Gelehrten dachten, dass ein Geschoss so lange fliegt, bis sein "Impetus" sich erschöpft und es dann einfach senkrecht zum Boden fällt.

Solche Ideen gehörten zum Gedankengut der postaristotelischen Physik, wobei Aristoteles selbst die Schuld nur zur Hälfte trägt. Aristoteles vertrat nämlich die These, dass ein Körper seine Flugbahn nur so lange einhalten kann, wie ihn eine Kraft durch die Luft trägt. Dies entspricht der üblichen Erfahrung, wenn man z.B. einen Körper im Wasser bewegt. Schiebt man das Objekt nicht mehr, kommt es schnell zum Stillstand.

Während Galileo und Newton vom Widerstand des Mediums (Luft oder Wasser) abstrahierten und gerade das Gegenteil behaupteten, d.h., dass ein Körper ohne äußere Einwirkung seinen Bewegungszustand beibehält, hat Aristoteles die Atmosphäre in seine Wurftheorie mit einbezogen.1 Er dachte, dass von den vier Elementen Erde, Feuer, Luft und Wasser, Erde und Wasser nach unten streben, und zwar gradlinig. Es gab für Aristoteles die natürliche Bewegung der Objekte (z.B. wenn sie fallen) und die gewaltsame Bewegung, wenn etwas geworfen wird. Wenn aber der Werfer das Objekt loslässt, kann die weitere Bewegung des Objektes nur durch den Einfluss der umgebenden Luft erklärt werden, die die Bewegung "aufnimmt" und diese graduell an das Objekt abgibt - so Aristoteles. Das Objekt wird sozusagen weiter "getragen", bis es am Ende fällt.

Aristoteles hat sich aber anscheinend nicht über die Form der Flugbahn von Geschossen geäußert, diese Lücke musste von seinen Kritikern geschlossen werden. Iohannes Philoponos aus Alexandrien, Avicenna in Persien und Jean Buridan in Frankreich haben nach und nach die Impetustheorie formuliert: Nicht das Medium trägt ein Geschoss weiter, sondern der "Impetus", der durch den Werfenden an das Objekt übertragen wurde. Wenn der Impetus erschöpft ist, fällt das Geschoss geradlinig zum Boden.

In den darauffolgenden Jahrhunderten entfachten sich die Diskussionen über die genaue Form der Flugbahn und sogar über den Verlauf der Geschwindigkeit der geworfenen Objekte. Einige Philosophen dachten, das Geschoss beschleunigt nach dem Wurf weiter, erreicht eine maximale Geschwindigkeit in der Mitte der Flugbahn und wird danach graduell abgebremst. Es wurde auch diskutiert, ob die Flugbahn aus zwei Linien bestand (geradeaus, in einem Winkel nach oben, dann geradeaus nach unten) oder aus zwei Linien, verbunden mit einem Kreissegment, wie in Abb. 1 zu sehen ist. Die Zeichnung zeigt die Flugbahn einer Kanonenkugel, wie sich Impetustheoretiker diese vorstellten.

Heute kann man über solche Abbildungen eines Geschosses lächeln, denn wir wissen es besser. Wir glauben, überall den Parabelflug zu sehen, dabei verkennen wir,dass diese intuitiven Physiker nicht so weit von der echten Flugbahn von leichten Objekten entfernt lagen, wenn man den Luftwiderstand mit berücksichtigt. Je weniger Newtonsche Mechanik man in der Schule gelernt hat, desto näher kommen die intuitiven Vorstellungen an die Impetustheorie.2

Luftwiderstand im Analogrechner

Kehren wir zu unserem Torwart beim Abstoß zurück. Die Flugbahn des Balls wird vom Luftwiderstand mitbestimmt und dabei spielen verschiedene Einflussgrößen eine Rolle:

  • die Luftdichte,
  • die Oberfläche und der Querschnitt des Balls,
  • Form und Material des Balls.

Der Luftwiderstand steigt proportional zum Quadrat der Ballgeschwindigkeit, so dass auf den fliegenden Ball zwei Kräfte wirken: die Erdanziehung und der Luftwiderstand. Die Erdanziehung bleibt konstant (da der Erdradius groß im Vergleich zur Flughöhe des Balls ist), aber der Luftwiderstand ändert sich im Lauf des Fluges.

Man kann zeigen, dass wenn vx die horizontale Komponente der Ballgeschwindigkeit und vy die vertikale Komponente darstellt, die horizontale Beschleunigung durch den Luftwiderstand proportional zu -vvx ist, während die vertikale Luftwiderstandbeschleunigung proportional zu -vvy ist. Dabei ist v die Ballgeschwindigkeit (und v2=vx2+vy2). Dazu kommt die Beschleunigung der Erde nach unten. Mit diesen Kräften erhält man ein Gleichungssystem für die Balldynamik, das ohne weiteres numerisch am Computer gelöst werden kann. In der Schule behandeln wir gewöhnlich den Fall ohne Luftwiderstand. Dafür sind die Form des Balls und sein Material unerheblich. So erhält man das bekannte Resultat: Die maximale Wurfweite wird mit 45 Grad Wurfwinkel erreicht.

Allerdings wissen alle Torwarte, dass für gewöhnlich ein kleinerer Abstoßwinkel den Ball weiter bringt. Ein größerer Abstoßwinkel bringt den Ball höher, hat aber gleichzeitig den Nachteil, dass der Luftwiderstand mehr Energie des Balls konsumieren kann: Der Ball verliert dann mehr Geschwindigkeit in die horizontale Richtung, als wenn man ihn z.B. mit einem Winkel von 40 Grad geschossen hätte.

Während wir den Fernseher anschreien, der Torwart möge sich auf die Newtonsche Mechanik und die 45 Grad besinnen, benutzt dieser einen flacheren Abstoßwinkel, wenn er richtig weit kommen will. Und wir berücksichtigen dabei auch nicht weitere mögliche Verfeinerungen, wie den Ball noch dazu in Rotation zu versetzen. Der Spin eines Balls kann zusätzlichen "Anschub" liefern, da der Ball von der Luft "getragen" wird (wie beim Golf, wo der optimale Anschlagwinkel so niedrig wie 13 Grad sein kann).

Wenn wir solch ein theoretisches Problem in die Hände bekommen und nicht den Digitalrechner bemühen wollen, können wir die Lösung im Garten mit dem Analogrechner finden. Wir verwenden dafür Wassertropfen und werfen sie in die Luft, natürlich mit einer Sprinkleranlage. Abb. 2 zeigt das experimentelle Ergebnis. Da die Wassertröpfen unterschiedliche Radien haben, erhalten wir mehrere Lösungen gleichzeitig: es ist ein Parallelrechner. Wie die Abbildung zeigt, ist die Flugbahn asymmetrisch. Die Krümmung der Flugbahn ist in der zweiten Flughälfte größer. Die verschiedenen Flugbahnen erklären sich aus dem unterschiedlichen Luftwiderstand durch den größeren oder kleineren Querschnitt der Wassertropfen.

Abb. 2: Kein Parabelflug in der Atmosphäre. Bild: R. Rojas

Einige Physiker haben berechnet, dass der Torwart unter normalen Spielbedingungen die maximale Reichweite mit einem Abstoßwinkel zwischen 40 und 35 Grad erreichen kann. Für den Abwurf mit beiden Händen (von der Bande) ist der optimale Winkel relativ niedrig, um die 30 Grad. Dies hat aber mit der Biomechanik der Arme und weniger mit dem Luftwiderstand zu tun.

Man kann allerdings auch den Digitalrechner verwenden und die Bewegungsgleichungen für Wasserkugeln von 3 mm Radius lösen. Das habe ich am Rechner gemacht, mit den üblichen Parametern für den Luftwiderstand und dazu noch mit Gegenwind. Das Resultat kann man in Abb. 3 sehen. Die Flugbahn ist weit davon entfernt, eine Parabel zu sein. Das Wassergeschoss steigt in die Luft und fällt danach wie Blei. Iohannes Philoponos wäre von dieser Flugbahn begeistert gewesen.

Entscheidend für eine solche Flugbahn ist am Ende der Gegenwind: ist dieser beträchtlich, kann das Geschoss sogar am Ende in die Gegenrichtung fliegen. John Wesson hat in "Science of Soccer" ähnliche Simulationen durchgeführt und seine Flugbahnen für Fußbälle sind den hier gezeigten sehr ähnlich.3 Alles eine Frage der Umweltbedingungen beim Spiel.

Abb. 3: Trajektorie von Wassertropfen in Gegenwind. Bild: R. Rojas

Galileo und die Folgen

Man sieht, Aristoteles und die Impetustheoretiker haben nur das beschrieben, was das Auge oft gesehen hat: Wurfgeschosse können im Gegenwind aufsteigen und danach ziemlich "gerade" auf den Boden fallen.

Aristoteles hat auch postuliert, dass die Fallgeschwindigkeit der Objekte proportional zum Gewicht ist. Das können wir unter den Bedingungen des Luftwiderstandes oft beobachten. Ein Abstraktionssprung war deswegen für die berühmten Fallexperimente von Galileo notwendig. Man kann die Konstanz der Erdbeschleunigung nur nachweisen, indem man vom Luftwiderstand abstrahiert oder diesen experimentell so weit reduziert, dass er sich kaum bemerkbar macht.

Wenn also der Leser das nächste Mal den Nationaltorwart kritisiert, sollte er bedenken, dass diese Zeitgenossen intuitive Mathematiker sind, die in Echtzeit und im Kopf die komplizierten Bewegungsgleichungen des Balls und des umgebenden Mediums lösen, um den genialen Abstoß zum vordersten Mann zu realisieren. Die Tiefe des Raumes ist nur dank der Tiefe seiner Gedanken erreichbar.