"Der Osten" in deutschen Politikerköpfen

Wie Stellungnahmen im neuen Kalten Krieg zustande kommen

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Gegen die russische Regierungspolitik die "harte Tour" fahren, wie es einflussreiche deutsche Pubizisten forden? "Besonnen" reagieren, wozu die meisten Wirtschaftsexperten hierzulande raten? Auch die westliche Geopolitik kritisch in den Blick nehmen, was keineswegs nur linke Analysten empfehlen? Da haben es diejenigen, in deren Hand die professionelle Politik liegt, nicht leicht. Welchen Ratschlägen sollen sie folgen? Auf welche Gefühle und Interessen im eigenen Land sollen sie Rücksicht nehmen? Was an externen "Vorgaben" ist zu beachten?

Die Stellungnahmen aus der Politikszene, wie der Fall Ukraine zu beurteilen sei und auf welche Weise man - personalisiert: "mit Putin umgehen" solle, sind für das Publikum verwirrend, die üblichen politischen Zuordnungen geben in dieser Sache nicht viel her, in den Parteien selbst geht es in dieser Sache kontrovers zu.

Wie kommen Politikerinnen und Politiker zu ihren jeweiligen Positionierungen? Wodurch sind sie motiviert, welche "erkenntnisleitenden Interessen" lassen sich vermuten? Spielt selektive Wahrnehmung bei ihnen mit? Dazu einige Hinweise, ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

Wenn eine deutsche Politikerin, in parlamentarischer Opposition befindlich zur Bundesregierung, der Bundeskanzlerin vorwirft, diese verfahre zu gnädig um mit dem "Brandstifter" in Moskau, muss das nicht einer näheren Beschäftigung mit den Verhältnissen in der Ukraine, auf der Krim und in Russland entspringen, auch nicht dem Studium geopolitischer Konflikte. Als leitendes Motiv ist naheliegend: Es soll für die eigene Partei Aufmerksamkeit erzielt werden, Anerkennung als "wertorientierte", überall Menschenrechte einklagende Kraft, die gegenwärtige Regierung so übertrumpfend. Für den Blick auf konkrete Folgen einer "harten" Russlandpolitik für die Menschen in dem umstrittenen Terrain lässt eine solche Deklaration möglicherweise gar keine Zeit, Politikauftritte stehen unter Tagesdruck.

Wenn ein Prominenter aus dem christlichen Teil der Regierungskoalition Verständnis auch für russische Interessen äußert, resultierte dies gewiss nichts aus verborgenen bolschewistischen Neigungen, auch nicht aus dem Gebot "Liebe Deine Feinde". Zu vermuten ist, dass der Mann über Kenntnisse aus dem Wirtschaftsleben verfügt, auch dem deutsch-russischen; er ahnte Geschäftsschädigung in der Bundesrepublik. Zudem tut es seiner Partei gut, wenn diese auch den Teil des Publikums anspricht, der Furcht vor neuen internationalen Konflikten hat, nicht zuletzt wegen der Kosten, die diese der Bundesrepublik aufbürden werden.

Wenn ein anderer Prominenter aus der Union, im Feld der Europapolitik agierend, sich beim Regime Change in Kiew hervortat und als Manager für einen Präsidentschaftskandidaten dort tätig wurde, ging dem nicht unbedingt eine Kenntnisnahme der schwierigen ukrainischen Geschichte und ihrer Konsequenzen in der Gegenwart voraus. Motivierend war sicherlich der Wille, den Rang der eigenen Parteirichtung im europäischen Parlamentarismus anzuheben, mit Hilfe eines "Euromaidan". Das Nachdenken über eine riskante Eigendynamik der Umsturzbewegung in der Ukraine hätte dabei gestört.

Wenn der sozialdemokratische Parteivorsitzende "Putinversteher" in der Linkspartei abkanzelt und das Gespräch mit Gysi absagt, so auch der Russenangst Nahrung gibt, hat das womöglich mit der Ukraine und der russischen Politik gar nichts zu tun. Es geht eher um deutsche Innenpolitik, um Abdrängen der Partei die Linke, zugleich darum, diese intern in Auseinandersetzungen zu bringen, damit sie vielleicht für später koalitionsreif wird.

Und schließlich die deutsche Bundeskanzlerin mitsamt ihrem Außenminister: Sie müssen Ostpolitik machen oder den Anschein fabrizieren, dass sie eine solche durchdacht betreiben, um spezifische Bedürfnisse im Westen zufrieden zu stellen. Da haben Vermeidungsstrategien den Vorrang. Die US-Regierung darf nicht den Eindruck haben, ihr weltpolitischer Führungsanspruch werde von der Bundesrepublik in Frage gestellt; andere EU-Staaten müssen an Eigenwilligkeiten gehindert werden; die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland sollen nicht zweifeln an der souveränen Amtswaltung ihrer Regierenden; deutsche Unternehmer dürfen nicht in Verunsicherung geraten, aber es sollen auch traditionelle deutsche Ängste vor "Moskau" sich nicht aus dem Gehege der Regierungsparteien hinausbegeben.

Die Bespiele verweisen darauf, dass ostpolitische Auftritte der Politprominenz in der Bundesrepublik mit den Realitäten im Osten Europas nicht zusammenhängen müssen. Sie bedürfen auch nicht vertiefter Kenntnisse in östlicher politischer Geographie. Dass dies der gesellschaftlichen Entwicklung und dem Schicksal der Bevölkerung in der Ukraine, auf der Krim und in Russland gut bekommen wird, ist nicht anzunehmen.