"Macht wird nicht freiwillig geteilt"

Anke Domscheit-Berg über ohnmächtige Bürger, Demokratiedefizite und die bevorstehende Europawahl, für die sie für die Piraten kandidiert

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Die Unternehmerin und Netzaktivistin Anke Domscheit-Berg engagiert sich beruflich, politisch und ehrenamtlich vor allem für die Themen "Open Government" und "Geschlechtergerechtigkeit". 2011 gründete sie die Beratungsfirmen fempower.me und opengov.me, zuvor war sie Direktorin bei Microsoft Deutschland und fast ein Jahrzehnt in verschiedenen Positionen bei Accenture beschäftigt. Anfang dieses Jahres erschien ihr Buch "Mauern einreißen!" . Anke Domscheit-Berg kandidiert für die Piratenpartei für die Wahlen zum Europaparlament am 25. Mai 2014.

Wann hat Ihnen zuletzt jemand gesagt: "Nette Idee, Frau Domscheit-Berg, aber: Das geht nicht, das ist unmöglich?"

Anke Domscheit-Berg: Sowas höre ich leider ständig. Bis vor Kurzem musste ich mir dauernd Sätze anhören wie: "Piraten ins Europaparlament? Ach, das schaffen die doch eh nicht." Erfreulicherweise hat sich die Skepsis nach dem Fall der Drei-Prozent-Hürde erledigt. Ich habe ohnehin von Anfang an gesagt: "Wir schaffen das." Optimismus ist eine notwendige Voraussetzung für Erfolg - und wer nicht kämpft, wird auch nichts verändern.

Wie reagieren Sie auf derartige Sätze? Haben Sie mittlerweile eine Standardantwort parat?

Anke Domscheit-Berg: Das kommt auf die Situation an. In der Regel habe ich gute Argumente, die meine Zuversicht stützen. Weder rede ich mir die Sachen schön, noch denke ich, meine Ziele würden mit einer hundertprozentigen Wahrscheinlichkeit eintreten. Fakt ist: Viele gute Ideen werden schnell in den Papierkorb geworfen, weil man glaubt, deren Umsetzung sei unrealistisch. Das ist aber von Grund auf falsch.

Sie appellieren an uns alle, für scheinbar unmögliche Ziele und Visionen zu kämpfen, der Mauerfall sei dafür das beste Beispiel, schreiben Sie in Ihrem Buch. Fühlen Sie sich in den öffentlichen Debatten manchmal wie eine Motivationstrainerin?

Anke Domscheit-Berg: Oh ja (lacht). Dass viele Menschen denken, sie könnten nichts ändern, ist beinahe eine Art psychologische Zivilisationskrankheit. Sie fühlen sich häufig ohnmächtig und machtlos, weil sie im Alltag sehen, wie viele Prozesse an ihnen vorbeirauschen, von denen jeder genau weiß, dass die Mehrheit diesen Kram nicht gut findet. Kurzum: Eine Menge Entscheidungen, die von Politikern getroffen werden, gehen am Lebensalltag und den Erfahrungen der Menschen vorbei. Derlei führt zu Frust und Gleichgültigkeit.

Nennen Sie bitte ein Beispiel.

Der klassische Lobbyismus. All jene Missstände, die er hervorruft, sind lange bekannt, trotzdem bleiben sie bestehen. Deshalb denken viele Leute, es ergebe keinen Sinn, dagegen zu kämpfen. Ein Teufelskreis. Wenn alle still halten, ändert sich nichts, Macht wird nämlich nicht freiwillig geteilt, sondern wir müssen uns einmischen, um ein Stück davon zu bekommen.

Plakativ ausgedrückt: Die deutsche Gesellschaft ist träge geworden?

Anke Domscheit-Berg: Ja, und zwar aufgrund einer pessimistischen Grundeinstellung. Viele Menschen geben freiwillig Macht ab, weil ihnen gar nicht bewusst ist, wie viel Macht sie tatsächlich besitzen. Die Leute sind ja nicht alle faul oder haben keinen Bock, nein, sie fühlen sich einfach ohnmächtig. An diesem Punkt kommt dann tatsächlich die Motivationstrainerin Anke zum Vorschein und ruft dazu auf, endlich aufzustehen und sich einzumischen, weil wir eben doch gemeinsam eine ganze Menge verändern können.

"Die Demokratie ist nicht sicher, wir müssen sie verteidigen"

Sie schreiben in Ihrem Buch, das Verhältnis zwischen Volk und Politik sei zerrüttet, weil die Machtverteilung aus dem Gleichgewicht geraten sei. Mit welchem Adjektiv würden Sie die Demokratie, in der wir leben, beschreiben?

Anke Domscheit-Berg: (Pause) Die ist hochgradig gefährdet.

Würden Sie von einer Post-Demokratie sprechen?

Anke Domscheit-Berg: Nein, ich sehe eher die Gefahr, dass wir uns in Richtung eines digitalen Totalitarismus bewegen. Der Pfad, auf dem wir entlang schlendern, führt weg von der Demokratie, ganz klar. An der letzten Gabelung sind wir bereits falsch abgebogen. Wenn wir nicht bald umkehren, landen wir in einer Überwachungsgesellschaft, die mich an eine erinnert, die ich bereits erlebt habe (Anke Domscheit-Berg lebte über 20 Jahre in der DDR, d. Red.). Wahrscheinlich wird es aber noch schlimmer und dagegen zu kämpfen könnte irgendwann auch gefährlich werden. Eben deshalb müssen wir uns jetzt wehren.

Und wie genau stellen Sie sich das vor?

Anke Domscheit-Berg: Jeder von uns kann sich engagieren, Abgeordnete unter Druck setzen, Proteste veröffentlichen aber auch demonstrieren. All das ist noch ungefährlich - und dringend nötig. Es wäre ein Fehler, die Demokratie als Selbstverständlichkeit anzusehen. Das konnte man zuletzt leider überdeutlich an der NSA-Affäre sehen. Mein Vater hat vor Kurzem einen sehr eindringlichen Satz gesagt: "Ich werde bald 80 Jahre alt, die kürzeste Zeit meines Lebens habe ich in einer Demokratie verbracht - zuerst erlebte ich eine nationalsozialistische Diktatur, dann die Diktatur des Proletariats, wie die DDR sich damals selbst bezeichnete, und nun, erst seit 25 Jahren, lebe ich in einer Demokratie." Uns muss klar sein: Radikale Veränderungen sind stets möglich, in jede Richtung. Die Demokratie ist nicht sicher, wir müssen sie verteidigen.

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