Das politische "Bürgertum" - kurz vor dem Ende?

Ein teilnehmender konservativer Beobachter weiß Erschreckendes über die Lage der CDU/CSU zu berichten

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In ihrer Rubrik "Zeitgeschehen" brachte Deutschlands "bürgerlichste" Zeitung am 14. März einen Beitrag, der panische Gefühle auslösen mag: "Das Bürgertum zerfällt", steht darüber, Autor ist der Publizist und Kommunikationsstratege Michael Inacker, ein prominenter und erfolgreicher Akteur in der Presse wie in der Unternehmenswelt, mit Karrierestationen u.a. von der "Welt am Sonntag" bis zum "Handelsblatt", von der Firma Daimler bis zur Metro AG. Außerdem ist er Vorsitzender der Marin-Luther-Stiftung und seinerzeit ausgezeichnet mit dem Medienpreis für "kreative Wortschöpfungen".

Kein heimatloser Intellektueller also ist es, der da von einer Agonie berichtet, von ihm beobachtet an einem gesellschaftlichen und politischen Wesen, dem er sich stets zugehörig gefühlt hat. "Das Bürgertum" schreibt er - meint freilich dessen traditionelle parteiliche Vertretung in der Bundesrepublik, die CDU/CSU (geistlicher Beistand tut in einer solchen Not wohl, und so ist sein Text dokumentiert auf www.luther-stiftung.org ).

Inacker beklagt die "Zersplitterung und Uneinigkeit" im parteipolitischen Auftritt - die Zergliederung des sogenannten bürgerlichen Lagers in Union, Liberale, AfD und christliche Kleinparteien, den Mangel an Zusammenhalt dieser politischen Gruppierungen. Das ist nicht originell, und er schürft deshalb gedanklich tiefer: Die drei weltanschaulichen "Grundkonstanten" des deutschen Bürgertums seien in Auflösung.

  • In der Außenpolitik: Die Frontstellung gegen die kommunistische, nunmehr russische Gefahr sei nicht mehr Konsens; zu beobachten sei dies aktuell an dem Gegensatz von "Rußlandverstehern und Rußlandskeptikern" in den Unionsparteien.
  • In der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik: Das Vertrauen auf Markt und Unternehmertum, auf das "erfolgreiche Miteinander von Finanz- und Realwirtschaft" verflüchtige sich; in Hintergrundgesprächen mit Unionspolitikern" seien "sozialdemokratische oder gar sozialistische" Äußerungen zu hören.
  • In der Wertepolitik: Das "C" diene nicht mehr als weltanschauliche "Dachstrebe", und Christen gerieten ja auch im Bürgertum in den Status einer Minderheit.

Für die "Noch-Volksparteien CDU/CSU" ahnt Inacker "düstere Aussichten", die "Leuchttürme" seien verschwunden. Warum diese Untergangsstimmung eines bekennenden Bürgerlichen in Zeiten, wo die Unionsparteien unangefochten den ersten Rang in der Parteienkonkurrenz halten und die christdemokratische Kanzlerin internationalen Respekt genießt? Gewiss - neben der CDU/CSU treten "bürgerliche" Konkurrenten auf, und in den Unionsparteien breiten sich programmatische Unsicherheiten aus. Aber der von Inacker so geschätzte Martin Luther sagte doch: "Das ist die gefährlichste Anfechtung, wenn keine Anfechtung da ist. "

Möglicherweise liegt darin kein Trost für diejenigen, die ein politisches Leben ohne die Vorherrschaft der Union fürchten. Die Anfechtungen könnten überhand nehmen, demnächst jedenfalls. Die Fixierung von CDU und CSU auf das Nordatlantische Bündnis wird in der Tat zum "bürgerlichen" Problem, je mehr die US-Geopolitik deutschen Wirtschaftsinteressen in die Quere kommt. In der EU gibt noch die Bundesrepublik den Ton an, aber die Widersprüche im europäischen politischen Terrain verstärken sich, die finanziellen Lasten auch.

Innergesellschaftlich können die Unionsparteien (mit Hilfe der SPD) den Druck sozialer Verwerfungen noch auffangen; wie lange das funktioniert, hängt von wirtschaftlichen Konjunkturen ab, die nicht per Regierungspolitik steuerbar sind. Der Glaube an die "Soziale Marktwirtschaft" hat ein unsicheres Fundament.

Treten heftige soziale Konflikte auf, hilft die parteipolitische Inanspruchnahme "christlicher Traditionen" nicht weiter, Not lehrt nicht unbedingt Beten, auch die Unionsparteien könnten sich darauf nicht verlassen Insofern sind "bürgerliche" Befürchtungen wie die Inackers nicht wirklichkeitsfremd; irreal ist nur die Annahme, der "Zerfallsprozess", von dem da die Rede ist, sei ideellen Aufweichungen zuzuschreiben. Und Martin Luther wird, wenn sie in Erosion gerät, die CDU/CSU nicht retten, warum sollte er auch. Er war politisch nicht festgelegt.