Ukraine zwischen Entspannung und Eskalation

Geopolitischie Kräfte (6.3.2014). Bild: Spiridon Ion Cepleanu/CC-BY-SA-3.0

Russischer Truppenaufmarsch und verstärkte Militärpräsenz der Nato und der USA in Osteuropa: Wohin steuert die Krise?

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Mit dem Anschluss der Krim an Russland hat die Regierung in Moskau Fakten geschaffen. Zwar gibt es nun erste Anzeichen für eine Entspannung, aber ist dies trügerisch, da die russischen Streitkräfte ihren Truppenaufmarsch noch verstärkt haben. Gleichzeitig erhöhten auch die USA und die NATO ihre Militärpräsenz in Osteuropa. Allüberall werden Militärmanöver abgehalten. Die NATO fürchtet einen russischen Angriff auf die Ost-Ukraine oder Transnistrien (Kriegsbeschwörung wird lauter).

Nach der Konfrontation in den ersten drei Märzwochen sind Russland und die USA nun sichtlich bemüht, die aufgestauten Spannungen abzubauen und zum diplomatischen Alltag zurückzukehren.

Entspannungsanzeichen

Am 19. März rief der NATO-Oberbefehlshaber General Philip Mark Breedlove den russischen Generalstabschef Generaloberst Walerij Wassiljewitsch Gerassimow an, um mit ihm über die Lageentwicklung in der Ukraine auszutauschen. Es war der erste direkte Kontakt zwischen den beiden Feldherren seit Beginn der Krise.

Am 20. März telefonierte der russische Verteidigungsminister Sergej Kuschugetowitsch Schoigu mit seinem amerikanischen Pendant Charles Timothy Hagel. Gegenstand des Gesprächs war der massive russische Truppenaufmarsch. Der Pentagon-Sprecher John Kirby in Washington berichtete:

Schoigu hat darauf verwiesen, dass Truppen, die entlang der Grenze stationiert sind, sich dort nur für die Durchführung von Übungen befinden und nicht die Absicht haben, die ukrainische Grenze zu überschreiten und auch keine aggressiven Handlungen unternehmen werden.

Am 22. März traf ein vierzigköpfiges Beobachterteam der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in der Ukraine zu einer fact-finding-Mission ein. Allerdings darf die OSZE keine Inspektionen auf der Krim durchführen. Mit ihrer Zustimmung zu diesem begrenzten Mandat haben die westeuropäischen Staaten der Annexion der Halbinsel durch Russland indirekt ihr Plazet erteilt.

Am 24. März traf der russische Außenminister Sergej Lawrow am Rande des Nuclear Safety Summits (NSS) in Den Haag mit seinem Kiewer Amtskollegen Andrij Deschtschizja zusammen. Bisher hatte die Regierung in Moskau Gespräche mit der Übergangsregierung in Kiew immer abgelehnt.

Es bleibt die Frage, ob die ersten Anzeichen für eine Entspannung nur eine trügerische Ruhe vorgaukeln. So bleiben ernste Bedenken bzgl. der zukünftigen Entwicklung. NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen erklärte hierzu:

Dies ist die größte Bedrohung für Europas Sicherheit und Stabilität seit dem Ende des Kalten Krieges. (…) Russland hat seine Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit als internationaler Akteur infrage gestellt.

Und der ukrainische Außenminister Andrej Deschtschiza warnte am 23. März:

Wir wissen nicht, was Putin vorhat (…), deswegen wird die Situation noch explosiver, als sie es vor einr Woche war.

Befürchtet werden zwei mögliche Szenarien:

  1. Die russischen Streitkräfte könnten in die Ost-Ukraine einmarschieren, nachdem es dort zu Unruhen gekommen ist, weil die russische Bevölkerungsminderheit nach dem Muster der Krim einen Anschluss an Russland fordern könnte.
  2. Die russischen Streitkräfte (Marine, Marineinfanterie und Fallschirmjäger etc.) könnten bis zur moldauischen Separatistenregion Transnistrien vorstoßen oder dort einmarschieren, um die ansässige russische Bevölkerung (ca. 9 Prozent) zu "schützen". Hier sind bereits heute 1.500 russische Soldaten der früheren 5. MotSchützen-Brigade disloziert.

Noch ist unklar, welche langfristigen Folgen die neue russische Konfrontationslinie für die NATO haben wird. NATO-Oberbefehlshaber Philipp Breedlove erklärte dazu am 23. März:

We saw several snap exercises executed in which large formation of forces were brought to readiness and exercised and then they stood down. (…) And then…boom—into Crimea…with a highly ready, highly prepared force. (…) What does that mean for NATO in the future. How do we change our deployment? How do we change our readiness? How do we change our force structure such that we can be ready in the future?"

Die Entwicklung bei den ukrainischen Streitkräften

Der ukrainische Verteidigungsminister Admiral Igor Tenjuch beklagte am 11. März den miserablen Zustand seiner Streitkräfte (Sbrojni syly Ukrajiny). Um die Kampfkraft zu erhöhen, sollen die Wehrdienstleistenden, die ihren Militärdienst eigentlich demnächst beendet haben, erst später entlassen werden.

Außerdem ordnete die ukrainische Regierung am 17. März die Mobilisierung von 15.000 bis 20.000 Reservisten an. Längerfristig plant das ukrainische Heer - zusammen mit den beiden NATO-Staaten Litauen und Polen - die Aufstellung einer Trinationalen Brigade.

Um kurzfristig die Einsatzbereitschaft zu verbessern, genehmigte das Parlament am 17. März - trotz der katastrophalen Wirtschafts- und Finanzlage - eine Erhöhung des laufenden Verteidigungshaushaltes um 716 Millionen Dollar. Das entspricht einer Steigerung um über 50 Prozent, während gleichzeitig die Sozialausgaben gekürzt werden mussten.

US-Außenminister John Kerry hatte am 4. März bei seinem Kiew-Besuch dem Land kurzfristig eine Finanzhilfe von 1 Milliarde Dollar zugesagt. Angesichts des maroden Zustandes seiner Streitkräfte bat die ukrainische Regierung die USA zusätzlich um Rüstungslieferungen. Dies wurde abgelehnt. Ein amerikanischer Regierungssprecher erklärte dazu:

Momentan erwägen wir keine Militärhilfe. Dieses "Nein" ist nicht für immer. Dieses "Nein" gilt für den jetzigen Zeitpunkt.

So gewährte Washington lediglich eine Lebensmittelhilfe durch Lieferung von 25.000 "eisernen Rationen", was widerum ein bezeichnendes Licht auf den Zustand der ukrainischen Truppen wirft.

Trotz der prekären Lage denkt man in Kiew bereits an zukünftige Hochrüstung: Nach dem Bruch des Budapester Memorandum durch Russland denkt mancher Politiker in Kiew (Mikhail Golovko, Sergej Kaplin, Valentin Koroljuk, Alexander Tschernowolenko, etc.) nun über einen Ausstieg aus dem Atomwaffensperrvertrag nach.

Zwar verfügt das Land über das technologische Know-how zur Entwicklung einer eigenen Atombombe, allerdings fehlen dafür in absehbarer Zeit die finanziellen Mittel. Der ukrainische Außenminister Andrej Deschtschiza wiegelte entsprechende Befürchtungen auf dem Nuclear Safety Summit (NSS) am 24. März in Den Haag ab:

Es gibt manche, die die frühere Situation wiederherstellen und die Urananreicherung wiederaufnehmen wollen. (…) Wir nutzen keine nukleare Stärke. Das wäre eine Bedrohung für uns selbst und für die gesamte Region.

Bei den vorhandenen konventionellen Teilstreitkräften sieht die Lage düster aus:

  • Heer: Nach Angaben des ukrainischen Verteidigungsministers Igor Tenjuch sind beim Heer nur 6.000 Soldaten tatsächlich einsatzbereit. Im Rahmen der gegenwärtigen Spannungen brannten am 20. März mehrere Kampfpanzer der 17. Panzerdivision bei Krywyj Rih in der Zentralukraine. Die Ursache ist bisher unklar, allerdings ist dies ein erster Hinweis auf mögliche Sabotageakte.
  • Nationalgarde: Am 13. März beschloss das ukrainische Parlament die Aufstellung einer Nationalgarde. Dazu werden derzeit 20.000 Mann einberufen. Mit der Nationalgarde versucht die Regierung in Kiew paramilitärische Kräfte der so genannten Maidan-Selbstverteidigungskräfte zu reintegrieren, um sie unter ihre Kontrolle zu bringen. Die Nationalgarde sollte bereits am 13. März mit ersten Übungen beginnen.
  • Luftwaffe: Die ukrainische Luftwaffe ist den russischen Fliegerkräften hoffnungslos unterlegen. Regierungschef Arseni Jazenjuk bezifferte das Kräfteverhältnis auf 1 zu 98. Für Mai bis Juli plant die ukrainische Luftwaffe eine gemeinsame Übung mit der polnischen Luftwaffe. Neben ukrainischen MiG-29 Fulcrum und Su-27 Flanker sollen auch polnische MiG-29 Fulcrum und F-16 Fighting Falcon zum Einsatz kommen.

Demgegenüber maß sich der russische Vizeverteidigungsminister Anatoli Antonow am 12. März an, die Ukraine davor zu warnen, auf ihrem eigenen Territorium Militärmanöver durchzuführen:

Ein Militärmanöver im Osten und Süden der Ukraine, wo Massenproteste gegen den Staatsstreich in Kiew stattfinden, wäre ein äußerst riskanter Schritt. Er könnte die ohnehin schon komplizierte politische Situation im Land noch mehr destabilisieren.

Nicht zuletzt gab es in den letzten Wochen vereinzelt Cyberattacken gegen die Ukraine. Ob diese durch den russischen Abhördienst Federal'naya Agenstvo Pravitel'stvennoy Svayazi i Informatsii (FAPSI) gesteuert oder nur von Privatpersonen begangen wurden, ist nicht bekannt. In diesem Zusammenhang wurde auch bekannt, dass die Telefonate der ukrainischen Politikerin Julia Timoschenko bei ihrem Krankenhausaufenthalt in Berlin aller Wahrscheinlichkeit nach abgehört wurden ("Es ist Zeit, das Gewehr zu ergreifen und die verdammten Russen zu töten").