Steigt das Krebsrisiko in der Nähe von alternden Atomkraftwerken?

Eine epidemiologische Studie scheint einen Zusammenhang für das 30 Jahre alte AKW Diablo Canyon in Kalifornien plausibel zu machen

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Steigt die Krebshäufigkeit bei Menschen, die in der Nähe eines AKW leben? 2007 hatte eine vom Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) in Auftrag gegebene epidemiologische Studie für Aufsehen gesorgt (Leukämie-Risiko für Kinder in der Nähe von AKWs höher). Sie konstatierte eine erhöhte Krebsrate bei Kleinkindern bis zu 5 Jahren, die im Umkreis von 5 km um ein AKW leben, die Leukämierate läge doppelt so hoch. Der damalige Umweltminister Gabriel ließ daraufhin die KiKK-Studie von der Strahlenschutzkommission (SSK) überprüfen. Sie kam 2008 zum Schluss, dass sie methodische Fehler enthalte und keinen Zusammenhang mit der Strahlenexposition durch Kernkraftwerke herstellen könne (Streit um die Ursache für erhöhtes Krebsrisiko von Kindern in der Nähe von AKWs).

Eine Studie aus den USA, die im März von der World Business Academy, einem Think-tank für wirtschaftliche Verantwortung veröffentlicht wurde, sieht nun Hinweise darauf, dass zumindest alternde Reaktoren die Krebsrate der über 460.000 Menschen in der näheren Umgebung erhöhen könnten. Das könnte auch insofern brisant sein, sollten die Ergebnisse zutreffen, weil Präsident Obama 2010 die geplante Errichtung eines Endlagers in den Yucca Mountains gestoppt hatte. Jetzt muss auf unbestimmte Zeit der radioaktive Abfall in den noch arbeitenden und in den stillgelegten AKWs gelagert werden. Zudem sollen neue AKWs gebaut werden.

Verglichen wurde von Joseph Mangano, dem Direktor des Radiation and Public Health Project (RPHP), die Erkrankungsraten der Menschen, die in einem Umkreis von 50 Meilen um die beiden einzig noch in Betrieb befindlichen Reaktoren des AKW Diablo Canyon in San Luis Obispo mit denen der gesamten kalifornischen Bevölkerung. Die Reaktoren gingen 1984 und 1985 ans Netz, die Reaktoren des AKW San Onofre wurden 2013 abgeschaltet. 2010 waren 1126 Tonnen hochradioaktiver Abfall im AKW Diablo Canyon gelagert, das zudem erdbebengefährdet sein könnte. Ausgetreten ist hier nach dem Bericht mehr hochradioaktives flüssiges Tritium als in anderen AKWs, Tritium in der Luft wurde bei anderen Reaktoren höhere Werte gemessen. Die radioaktiven Emissionen lagen im Bereich der staatlichen Normen, schwankten aber zwischen 2000 und 2010 teils stark. Insgesamt beklagen sich die Autoren über unvollständige, fehlende oder nicht zu vergleichende Daten für die US-Reaktoren.

Die Bevölkerung des San Luis Obispo County unterscheidet sich von der kalifornischen Gesamtbevölkerung. Hier leben fast doppelt so viele weiße, nicht aus Lateinamerika stammende Menschen als im Rest des Landes, was heißt, dass sie eher gesünder ist, auch wenn es weniger Junge und mehr Alte gibt. Die Zahl der unter der Armutsschwelle Lebenden ist geringer, das Medianeinkommen aber auch. Insgesamt sagen die Autoren dürften sich die demografischen Unterschiede aber nicht auf die Morbidität auswirken.

In den 1950er und 1960er Jahren wurde in 320.000 Babyzähnen die Belastung durch Strontium-90 gemessen, das nur bei Atomwaffentests und dem Betrieb von AKWs freigesetzt wird. Wenig erstaunlich war die Belastung bei Kindern, die 1964 geboren wurden, als die oberirdischen Atomwaffentests eingestellt wurden 50fach höher als Kindern, die 1950 geboren wurden. Von 1964 bis 1969 gingen die Werte um 50 Prozent zurück.

Seitdem wurde die Belastung nicht mehr systematisch gemessen. Es gibt bislang lediglich eine weitere Studie der Radiation and Public Health Project (RPHP), die die Belastung mit Strontium-90 in Babyzähnen in den Jahren 1996 bis 2006 durchführte. Erhoben wurden die Daten von fast 5000 Babyzähnen in Kalifornien und einigen anderen US-Bundesstaaten. Durchschnittlich lag die Belastung bei den in der Nähe von AKWs geborenen Kindern zwischen 30 und 50 Prozent höher als beim Durchschnitt. Verglichen mit den Daten der vorherigen Studie und Daten von kalifornischen Kindern, die 1986-89 sowie 1994-97 geboren wurde, stieg die Belastung nach dem Abfall in den 1960er Jahren seit den 1980er Jahren wieder an. Innerhalb von 15 Jahren (1982-1997) nahm nach Zahnproben in Kalifornien die Belastung um 50 Prozent zu und stieg im Durchschnitt von 93 auf 139 Millibecquerel pro Gramm Calzium. Strontium-90 hat eine Halbwertszeit von 28,6 Jahren. Es ähnelt Calzium und wird vom Körper in die Knochen eingebaut. Vermutet wird, dass Strontium-90 zu Knochenkrebs oder Leukämie führen kann, es ist als kanzerogen eingestuft.

Wirklich belastbar sind diese Zahlen nicht. Untersucht wurden in der kalifornischen Probe insgesamt gerade einmal 135 Zähne. Der Autor zieht daraus den Schluss: "Dieser Anstieg von Strontium-90 in den Zähnen kann nur durch eine aktuelle Quelle der Radioaktivität zustande kommen, durch relativ seltene, zufällige Freisetzungen von Radioaktivität oder durch andauernde Freisetzungen im Rahmen des Erlaubten von allen in Betrieb befindlichen Reaktionen, darunter auch denen von Diablo Canyon." Die Autoren verweisen auf mindestens 19 Artikel in wissenschaftlichen Zeitschriften, die einen Zusammenhang zwischen der Aussetzung an niedriger Radioaktivität in der Umgebung von Reaktoren und Krebsrisiko bei Kindern ausgehen.

Krebserkrankungen und Säuglingssterblichkeit sind in der Nähe des AKW im Vergleich zu Gesamtkalifornien kontinuierlich gestiegen

Um zu klären, ob in der Nähe der beiden Reaktoren im San Luis Obispo County die Krebshäufigkeit höher ist, wurden Daten der Centers for Disease Control and Prevention analysiert. Verglichen wurde die Krebsmortalität in der Zeit vor dem Anfahren der Reaktoren (1979-1983) mit den Sterbefällen danach (1984-2010) für das San Luis Obispo County und Gesamtkalifornien.

In den ersten zwei Jahren nach der Inbetriebnahme des Reaktors ist die Sterblichkeit um 8,0 Prozent von 36 auf 41 Todesfälle bei Unter-Einjährigen gestiegen, während die in Gesamtkalifornien um 3,2 Prozent zurückgegangen ist. Ähnliche Zahlen gibt es bei der Säuglingssterblichkeit innerhalb der ersten 27 Tage. Allerdings ist die Säuglingssterblichkeit auch im County gesunken, nur weit weniger stark wie in ganz Kalifornien, weswegen sich nach 1983 die Säuglingssterblichkeit im County allmählich der von Gesamtkalifornien nähert. Die Veränderungen seien hier wegen der hohen Zahl der gestorbenen Säuglinge nach 1983 signifikant. 1979 lag die Krebserkrankungsrate bei Kindern unter 2 Jahren im County 39,5 Prozent unter der in Gesamtkalifornien. Von 1984 bis 2010 ist der Unterschied auf -17,7 geschrumpft, betrachtet man nur die Zeit von 2003 bis 2010 dann liegt sie nur noch 3,9 Prozent darunter (3,46 vs. 3,60 pro 100.000).

Die Krebserkrankungsrate für alle Altersgruppen wurde erst ab 1988 erfasst. Geht man von den Jahren 1988-1991 aus, wo diese für das County noch um 0,4 Prozent unter der Gesamtkaliforniens lag, so nahm sie im Laufe der Zeit zu und lag im Zeitraum 2001-2010 bereits 5,3 Prozent und im Zeitraum 2003-2010 sogar 6,9 Prozent darüber (468,01 vs. 437,97 pro 100.000). Nach Hiroshima und Nagasaki sei das größte Erkrankungsrisiko bei den Überlebenden für Schilddrüsen- und Brustkrebs bei Frauen gelegen. Beide Krebsarten haben auch deutlich im County im Vergleich zu Gesamtkalifornien zugenommen. 1988-1990 lag die Erkrankungsrate für Schilddrüsenkrebs im County noch 15,5 und die für Brustkrebs bei Frauen 6,6 Prozent unter der für Gesamtkalifornien. 2001-2010 war die Erkrankungsrate für Schilddrüsenkrebs bereits auf 1,6 Prozent und die für Brustkrebs auf 4,8 Prozent über die von Gesamtkalifornien gestiegen. Zudem liegt die Krebserkrankungsrate in San Luis Obispo höher als in den 20 südlichsten Counties Kaliforniens. Deutlich angestiegen ist auch die Krebserkrankungsrate bei Kindern und Jugendlichen bis 19 Jahre. Sie lag 1988-1994 noch 21,5 Prozent unter der von Gesamtkalifornien 1995-2011 aber schon 3,4 Prozent darüber. Auch kontinuierlich gestiegen ist im Vergleich zu Gesamtkalifornien der Anteil der Menschen, die an Krebs gestorben sind.

Und vergleicht man die Säuglingsmortalität des Gebiets in San Luis Obispo, das am nächsten zum Reaktor liegt, mit der des Gebiets, das am weitesten entfernt ist, dann nahm sie im ersten gegenüber Gesamtkalifornien um 12,1 Prozent zu, während sie weiter entfernt um 12 Prozent zurückging. Ähnliches zeigt sich bei der allgemeinen Mortalitätsrate.

Für den Autor stellen die statistischen Ergebnisse der Studie eine Bestätigung der Hypothese dar, dass Morbiditäts- und Mortalitätsraten in der Nähe von Atomreaktoren allmählich ansteigen. Erhöhte Radioaktivität "in der Umwelt und daher auch in den Lebensmitteln" sei ein Faktor dafür. Der Autor plädiert für weitere Studien und fordert, dass die Atomkontrollbehörde den möglichen Zusammenhang zwischen Radioaktivität und Krebs bei den Betriebsgenehmigungen alter AKWs berücksichtigen solle.

Der Betreiber des AKW, die Pacific Gas and Electric Company, erklärt, die Studie habe wie andere von Mangano keinen wissenschaftlichen Wert. Die letzten Überprüfungen der Atomaufsichtsbehörde hätten gezeigt, dass das AKW sicher und auf eine Weise arbeitet, "die die Gesundheit und Sicherheit der Öffentlichkeit schützt".

Das Nuclear Energy Institute (NEI), ein Lobbyverband, bezeichnete Mangano als "Angstmascher" und verweist darauf, dass nur 0,1 Prozent der Radioaktivität, der ein durchschnittlicher Amerikaner ausgesetzt ist, von AKWs stamme, während 50 Prozent von medizischer Technik wie Röntgenapparaten oder Computertomographen stammen. Der Großteil des Strontium-90 sei ein Überbleibsel der Atomwaffentests der 1950er und 1960er Jahre, es habe auch keine Veränderung der Hintergrundradioaktivität in der Nähe von Reaktoren gegeben.

Die Atomaufsichtsbehörde hat allerdings 2011 die National Academy of Sciences (NAS) beauftragt, das Krebsrisiko für die Bevölkerung in der Nähe von Reaktoren zu untersuchen. Die erste Phase zu methodologischen Fragen ist abgeschlossen, der Bericht über das Krebsrisiko steht noch aus.