"Wählerenthusiasmus" in Afghanistan

Berichtet wird von einem großen Andrang vor den Wahllokalen, aber auch von Hinweisen auf Manipulationen

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Diese eine Superlative des gestrigen Wahltag in Afghanistan könnte sich etwas länger halten: Es war der größte Militäreinsatz seit dem Sturz der Taliban im Jahr 2001. 400.000 Sicherheitskräfte waren laut BBC gestern landesweit aufgeboten, um die Stimmabgabe abzusichern, nachdem die Taliban wie üblich den Wählern Gewalt angedroht hatten. Da obendrein Regen und Kälte weitere Hindernisse auf dem Weg zu den Wahllokalen aufstellten, war die Freude über die ersten Nachrichten zur Wahlbeteiligung in der westlichen Öffentlichkeit heute morgen umso größer. Von einem großen Andrang wird berichtet, über einen "Wählerenthusiasmus", wie es ihn zuvor noch nie gab, freut sich der Guardian.

Nach den Regeln des auf Pointen ausgerichteten Journalismus spitzte die britische Zeitung das Phänomen des "voter enthusiasm" - eine völlige Unbekannte in westlichen Demokratien - , noch damit zu, dass die Ducrhführung der Wahl auf ein völlig unerwartetes Problem stieß: "zu viele Wähler". Die Stimmzettel hätten nicht ausgereicht, selbst in Wahllokalen in der Hauptstadt, nicht nur an entlegeneren Orten.

Tatsächlich sieht das Stimmzettel-Problem aber etwas anders aus. Die Zahl der gedruckten Wahlzettel übersteigt nämlich immer die Zahl der Wähler, auch dieses Jahr, informiert das Afghanistan Analysts Network. 15 Millionen habe die Wahlkommission IEC drucken lassen.

Stimmberechtigt sind laut Schätzungen 13 Millionen, bei der letzten Präsidentschaftswahl wurden 4 Millionen Stimmen abgegeben. Die Zahl soll nach Angaben der Wahlkommission gestern schon mittags erreicht worden sein. Im Bericht der Afghanistan-Korrespondentin Friederike Böge, die den IEC-Chef zitiert, ist auch zu lesen, dass "im Laufe der Jahre mehr als 21 Millionen Wählerkarten ausgegeben worden sind". Das läßt darauf schließen, dass nicht der Mangel an Wahlzetteln das Problem war, sondern eher die Verteilung und damit verbundene Unregelmäßigkeiten und Manipulationsmöglichkeiten.

Wieviele Wähler tatsächlich einen Stimmzettel erhalten durften und wie viele ihn erhalten haben, ist nicht bekannt, so das Afghanistan Analysts Network, das die gestern Abend vom IEC verkündete Schätzung von sieben Millionen abgegebenen Stimmen mit Vorsicht bewertet. Bei der letzten Wahl 2009 zeigten sich die Betrugsmanöver erst nach einiger Zeit. Damals waren es immerhin 1,5 Millionen Stimmen, die manipuliert worden waren. Wobei die Möglichkeiten dazu eine gewisse Vielfalt haben.

In vielen Regionen des Landes wird kollektiv abgestimmt. Lokale Führer verkaufen die Stimmen ihrer Untergebenen gegen Geld und Regierungsposten im voraus an Zwischenhändler. Zudem ist noch offen, in welchem Ausmaß die Wahlen diesmal gefälscht werden. Dass es zu Betrug kommt, gilt als ausgemacht. Schon deshalb, weil nach Schätzungen mehr als 30 Prozent mehr Wählerkarten "auf dem Markt" sind als es Wahlberechtigte gibt. Die Kartennummern werden genutzt, um in unsicheren Gebieten, in die sich keine Wahlbeobachter trauen, massenhaft falsche Stimmzettel zugunsten eines Kandidaten in die Urnen zu stecken.

Friederike Böge

Nach Beobachtungen, die das Afghanistan Analysts Network selbst angestellt und gesammelt hat, gab es Hinweise auf Ungereimtheiten bis an die Peripherie von Kabul. Entsprechend vorsichtig sind die Erfolgsmeldungen zu bewerten. Der Wille zur Good News aus Afghanistan ist groß, wie an den Gratulationsbotschaften von US-Präsident Obama, dem britischen Außenminister William Hague und Nato-Generalsekretär Rasmussen abzulesen ist, welche die BBC zitiert, aus denen auch nicht unbedingt hervorgeht, ob sie tatsächlich nach dem Wahltag oder tags zuvor abgegeben wurden.

Die Taliban haben es nicht geschafft, die Wahl zu sabotieren, ob dies die Irregularitäten tun, wird sich erst kommende Woche herausstellen. 2009 dauerte es zwei, drei Tage bis erste Konturen sichtbar waren und erst nach Wochen wurde das Gesamtausmaß deutlich.