False-Flag-Operation mit zahlreichen Toten?

Seymour Hersh vermutet den türkischen Geheimdienst hinter dem Giftgaseinsatz in Syrien

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Der US-Amerikaner Seymour Hersh ist Journalist - aber nicht irgendeiner, sondern der, der 1969 das Massaker von My Lai und 2004 die Folterungen im Abu-Ghuraib-Gefängnis einer größeren Öffentlichkeit bekannt machte. Nun ist er zum Ergebnis gekommen, dass der Giftgaseinsatz am 21. August 2013 nicht der syrischen Regierung, sondern dem türkischen Geheimdienst zuzuschreiben ist, der so ein Eingreifen der USA provozieren wollte. Deren Präsident hatte 2012 verlautbart, der Einsatz chemischer Kampfstoffe sei eine "rote Linie", die nicht überschritten werden dürfe.

Das vom türkischen Geheimdienst geplante Eingreifen der USA blieb Hersh zufolge nicht nur deshalb aus, weil sich die syrische Regierung dazu bereit erklärte, ihre Chemiewaffen unter internationaler Aufsicht vernichten zu lassen, sondern auch, weil Mitarbeiter des US-Militärs ihrem Präsidenten das türkische Komplott verrieten.

Der türkische Regierungchef Recep Tayyip Erdoğan und dessen Geheimdienstchef Hakan Fidan entwickelten den Plan angeblich, weil die US-Regierung nach dem Angriff auf ihr Konsulat im Bengasi aus der heimlichen Lieferung von libyschen Waffen an syrische Rebellen ausstieg. Danach verlief der von Erdoğan angestrebte Regimewechsel in Syrien nicht mehr so, wie er sich das vorgestellt hatte.

Bei einem Staatsbesuch Erdoğans im Mai 2013, bei dem der türkische Ministerpräsident unter anderem von Fidan begleitet wurde, versuchte er Barack Obama angeblich immer wieder davon zu überzeugen, dass die "rote Linie" bereits überschritten worden sei. Dabei argumentierte er mit zwei kleineren Giftgasattacken im März und April 2013.

Danach wählte man angeblich den 21. August als Tatzeitpunkt und Ghuta als Tatort, weil UN-Inspektoren am 18. August in Damaskus eintrafen, um die beiden früheren Vorfälle zu untersuchen. Auf diese Weise sollte maximale internationale Aufmerksamkeit gesichert werden.

Der britische Geheimdienst stellte nach der Analyse einer Tatortprobe in einem Militärlabor in Porton Down angeblich fest, dass das Giftgas nicht aus Beständen des syrischen Militärs stammt und gab diese Feststellung umgehend an die Amerikaner weiter. Deren Militärgeheimdienst Defense Intelligence Agency (DIA) kam Hershs Erkenntnissen nach aufgrund von abgehörten Gesprächen und kurzfristiger türkischer Begeisterung nach dem 21. August zum Ergebnis, dass das Sarin mit Unterstützung ihrer Kollegen vom Milli İstihbarat Teşkilatı (MİT) produziert, transportiert und eingesetzt wurde.

Bereits am 20. Juni hatte man dem DIA-Vizedirektor David Shedd ein streng geheimes fünfseitiges Briefing vorgelegt, aus dem er erfahren konnte, dass die al-Nusra-Front versucht hatte, in der Türkei und in Saudi-Arabien große Mengen der für die Produktion von Sarin nötigen Substanzen zu erwerben. Im Monat davor waren zehn mutmaßliche Mitglieder dieser syrischen Terrorgruppe in der Südtürkei festgenommen worden. Nach dieser Festnahme berichteten türkische Medien unter Berufung auf die Ortspolizei, dass man bei dieser Festnahme nicht nur Bombenzünder und Mörserteile, sondern auch Sarin sichergestellt habe. Später hieß es, bei der Substanz habe es sich lediglich um Frostschutzmittel gehandelt.

Der mutmaßliche Anführer dieser Zelle, Haytham Q., stand Hershs Informationen nach in engem Kontakt zu Abd-al-Ghani, dem für die Produktion militärischer Güter zuständigen "Emir" der al-Nusra-Front, und mit einem Mann namens Khalid O., der beste Kontakte zu Halit U. unterhielt - dem Angestellten einer türkischen Großhandelsfirma, die auch das Ausgangsmaterial für Sarin im Angebot hat.

Die im London Review of Books veröffentlichten Recherchen des "Muckrakers" erschienen kurz nach dem Leak eines heimlich mitgeschnittenen Gesprächs zwischen dem türkischen Außenminister, dem türkischen Geheimdienstchef, einem Staatssekretär und einem hochrangigen General, in dem unter anderem die Möglichkeit debattiert wird, durch einen False-Flag-Raketenangriff einen Vorwand für einen Einmarsch in das Nachbarland zu produzieren. Die türkischen Behörden mussten mittlerweile einräumen, dass die Stimmen in dieser Aufnahme echt sind. Hershs Vorwürfe dagegen werden von den Regierungen in Ankara und Washington offiziell bestritten.

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