Ukraine droht, schnell in einen bewaffneten Konflikt zu steuern

Die ukrainische Regierung will die Armee gegen Separatisten einsetzen, die sich verschanzt haben und wohl auf russische Beihilfe hoffen

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Die bewaffneten Anti-Kiew-Aktivisten haben es geschafft, was sie vermutlich beabsichtigten. Sie haben immer mehr staatliche Gebäude in ostukrainischen Städten erstürmt und besetzt. Schon sind die ersten Menschen bei Schusswechseln gestorben. Der ukrainische Innenminister Avatov hat nun doch eine Antiterror-Operation eingeleitet, den Militanten in Slawjansk ein letztes Ultimatum bis heute früh gestellt und ein hartes Vorgehen bei Nichtbeachtung angekündigt. Damit beginnt womöglich der Showdown, den Kiew bislang vermeiden wollte, weil damit auch Russland hineingezogen werden könnte, aber man auch zu lange unnachgiebig war, den Regionen mehr Selbständigkeit zu gewähren. Und in Moskau hat man sich mittels der Propaganda in eine Lage gebracht - oder diese bewusst erzeugt -, bei ernsthaften gewalttätigen Konflikten eingreifen zu müssen, um das Gesicht nicht gegenüber den russischen Nationalisten zu verlieren.

Sollten Kämpfe zwischen ukrainischen Soldaten und Aufständischen beginnen, könnte dies der Start eines Bürgerkriegs sein, an dem notgedrungen sowohl der Westen als auch Russland einbezogen wären. Das für Donnerstag anberaumte Treffen der Außenminister der Ukraine, Russland und der USA und der EU-Außenbeauftragten könnte zu spät kommen, um noch eine Wende einzuleiten. Möglicherweise aber sind Radikale auf beiden Seiten daran interessiert, dass es zu dem Gespräch gar nicht kommt.

Der russische Außenminister Lawrow warnte bereits seinen US-Kollegen Kerry in einem Telefongespräch am Sonntag, dass das Gespräch nicht zustande kommen werde, wenn die ukrainische Regierung gegen die Separatisten - "verzweifelte Bürger" - mit Gewalt vorgehe. Der ukrainische Präsident Turtschinow kündigte in einer Fernsehansprache am Abend die mit dem Nationalen Verteidigungsrat beschlossene groß angelegte Antiterroroperation noch einmal an und sprach davon, dass Russland hinter den Besetzungen stünde - "Das ist kein Krieg zwischen Ukrainern". Man werde es nicht zulassen, dass Russland noch einmal wie auf der Krim handelt. Er rief die Ukrainer auf, "sich nicht zum Instrument für einen ausländischen Krieg" zu machen, man müsse gegen den äußeren Aggressor vereint sein. Moskau entgegnete, der Einsatz der Armee gegen die Protestierenden sei "kriminell" und hat deswegen eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrats einberufen. Der freilich ist wie auch bei anderen Konflikten wie Syrien gelähmt. Die ukrainische Regierung wird in einer Mitteilung des russischen Außenministeriums aufgefordert, den "Krieg gegen die eigene Bevölkerung" zu beenden (zu vor in Kiew oder im Syrien-Konflikt hat man in Moskau das Gegenteil vertreten, was allerdings spiegelbildlich auch für den Westen gilt). Gefordert wird ein "wirklicher nationaler Dialog". Die Möglichkeit, einen Bürgerkrieg zu verhindern, liege in den Händen des Westens. Der wiederum ruft einseitig - so beispielsweise der deutsche Außenminister Steinmeier, der sich schon einmal von den Maidan-Militanten brüskiert gesehen hat - Moskau auf, sich nicht einzumischen, zur Mäßigung beizutragen und die Truppen an der Grenze abzuziehen.

Kiew sieht Russland hinter den Aktionen in der Ostukraine

In Sloviansk, einer Stadt mit 125.000 Einwohnern im Oblast Donezk, haben vermummte und teils schwer bewaffnete Männer Barrikaden und Stellungen um die Stadt aufgebaut. Am Samstag hatten sie die Polizeibehörde und das Geheimdienstgebäude gestürmt und dabei wohl Waffen erbeutet. Sie richten sich auf einen bewaffneten Konflikt mit den ukrainischen Sicherheitskräften (Militär, Geheimdienst, Polizei) ein, die Innenminister Avatov mobilisiert hat, um den Widerstand zu brechen, sollte das Ultimatum nicht eingehalten werden, wofür derzeit nichts spricht. Bei den Menschen vor Ort, so berichten Journalisten, herrscht die Angst vor den ukrainischen Nationalisten und dem militanten rechten Sektor vor. Da verfängt nicht nur die russische Propaganda, sondern das Bild der ukrainischen Interimsregierung, die auch rechtsextreme Nationalisten umfasst. Im Konflikt zwischen Ost- und Westukraine spielt die Vergangenheit ein, als mit den Nazis kooperierende Ukrainer gegen die kommunistischen Russen kämpften.

Gestern war es bereits an einem von den Aufständischen eingerichteten Kontrollpunkt vor der Stadt, in dessen Nähe sich drei gepanzerte Mannschaftswagen des ukrainischen Militärs befanden, zu einer Schießerei zwischen Sicherheitskräften und Militanten gekommen, bei angeblich der auf beiden Seiten Menschen getötet und verletzt wurden. Der Vorgang bleibt allerdings undurchsichtig. Zeugen sagten, dass die Schießerei von einem mit Bewaffneten besetzen Fahrzeug ausging. Das Fahrzeug sei von der Sicherheitsfirma Yavir, berichtete ein anwesender Journalist von der Kyiv Post. Die Insassen hätten sofort das Feuer auf die anwesenden Soldaten eröffnet und seien dann in den Wald geflüchtet. Die Menschen vor Ort seien überzeugt, so die Kyiv Post, dass die Bewaffneten die Soldaten provozieren sollten.

In Kramatorsk stürmten Bewaffnete die Polizeibehörde, sie ließen sich nicht von Polizisten und Bürgern aufhalten, die eine Kette bildeten und sie davon abhalten wollten. Die Bewaffneten schossen in die Luft und bezeichneten sich als afghanische Veteranen, die für eine Donezk-Republik eintreten. Anwesend waren einige Journalisten, die Aktion wurde gut dokumentiert, macht aber auch einen surrealen Eindruck. Leute schauen zu, laufen gelassen herum, während die Bewaffneten ihr Schauspiel aufführen. Es werden Mutmaßungen geäußert, es könnte sich um Russen oder russische Spezialeinheiten handeln.

Die Erstürmung der Polizeibehörde in Kramatorsk wurde gut dokumentiert und scheint vorangekündigt gewesen zu sein.

Auch der ukrainische Außenminister erklärte gestern, man habe Beweise, dass die Besetzungen der Regierungsgebäude vom russischen Geheimdienst gesteuert worden seien. Dafür sollen auch manche der Waffen sprechen, die von Männern mit militärischer Ausrüstung mit sich geführt werden. Sie sollen wieder russische Soldaten sein, die wie auf der Krim keine Abzeichen tragen und als "kleine grüne Männer" bezeichnet werden. Nach einem ukrainischen Geheimdienstmitarbeiter könne die Kommunikation der Separatisten nach Russland zurückverfolgt werden. All das muss mit großer Vorsicht betrachtet werden, denn in Kiew ist längst ebenfalls eine Propagandamaschine am Laufen, man spricht mal wieder vom Informationskrieg.

Auch in anderen Städten wurden weitere Staatsgebäude besetzt. Es scheint sich meist um kleinere Gruppen zu handeln, die aber in der Regel auf wenig Ablehnung seitens der lokalen Bevölkerung stoßen, die dies duldet oder Angst hat, zwischen die Räder zu geraten. In Donezk gingen gestern gerade einmal ein paar Tausend Menschen auf die Straße. Hier haben Aktivisten, die sich im Regierungsgebäude verbarrikadiert haben, die Republik Donezk ausgerufen und versuchen, andere Städte zu überreden, sich ihnen anzuschließen. In Lugansk ist das Gebäude des Geheimdienstes weiter besetzt, ein paar hundert Menschen demonstrierten gestern. Und in Charkow kam es zu Schlägereien zwischen pro-russischen und pro-ukrainischen Anhängern.

Weder Russland noch die USA/EU scheinen gewillt zu sein, auf die ihnen jeweils nahestehenden Fraktionen mildernd einzuwirken, stattdessen wird nur die gegnerische Seite beschuldigt. Bislang sieht es nicht so aus, als wäre wirklich die Bereitschaft vorhanden, die Dynamik zu bremsen, zumal beide Seiten in der Ukraine darauf abzielen, Russland oder die Nato in den Konflikt hereinzuziehen, um die eigenen Interessen zu wahren.