Der Fisch stinkt vom Kopf

Schulkinder im Umsiedlerdorf Gottin, 1947. Fotograf: Heilig. Bild: Deutsches Bundesarchiv , 183-S76607. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Wie Bildungsromantiker in Politik und Wissenschaft mit ihren Reformen das Lernen und Erkennen an Schule und Hochschule ruinieren - Teil I

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"Na endlich", wird so mancher Praktiker an Schule und Hochschule aufgestöhnt haben, als er den Artikel: "Studenten können keine Rechtschreibung mehr" Ende März in der FAZ lesen durfte. Es wurde auch langsam Zeit, dass jemand den Mut aufbringt, die sprachlichen Defizite öffentlich zu benennen, die Studierende in ihrer Muttersprache haben und an die Hochschule mitbringen.

Dadaistische Hausarbeiten

"Von Glück", so Hannah Bethke, Dozentin für Politik an der Hochschule in Greifswald, könne man reden, wenn man "eine Hausarbeit" in Händen halte, die allenfalls "Mängel in der wissenschaftlichen Analyse" aufweise. Viel schlimmer sei, dass es darin in "erschreckend vielen Fällen" an einer "Selbstverständlichkeit" mangle, die "mit dem Erreichen der Mittelstufe" eigentlich vorhanden sein sollte: nämlich die "Beherrschung" grundlegender Regeln "der deutschen Grammatik". Laut Bethke gelte diese Unkenntnis nicht nur für die Rechtschreibung, für Zeichensetzung, Klein- und Großschreibung oder Mitlautverdopplung, sondern auch und erst recht für den Satzbau und die Satzlogik. Der Dadaismus, vor knapp hundert Jahren eine bedeutsame literarische und künstlerische Bewegung in Europa, die mit willkürlich gesetzten Zufallshandlungen bekannte Ideen und Werte, Genres und Verfahren zerstören wollte, hätte seine wahre Freude an der Vielzahl unvollständiger und sinnentstellender Sätze gehabt, die sich in Hausarbeiten fänden.

Gäbe es Tabletten gegen das Begehen von Rechtschreibfehlern oder für die richtige Anwendung der Regeln der deutschen Sprache, dann würde nicht nur die Pharmaindustrie ein Riesengeschäft machen. Auch unsere professionellen Beschwichtiger hätten sicherlich schnell wieder eine Erklärung zur Hand, warum Kinder und Jugendliche korrektes Schreiben und Formulieren nicht erlernen könnten und (ähnlich wie bei den jüngst entdeckten Volkskrankheiten, bei Legasthenie und LRS, Dyskalkulie und ADS/ADHS) unbedingt einen Ausgleich oder Bonus bei der Vergabe von Noten, Zensuren und Prädikaten bekommen müssten. Ein Um- und Gegensteuern sei nicht in Sicht. Und Abhilfe und Aussicht auf Besserung auch nicht. Zwar wüssten die Verantwortlichen um diese Missstände in Bildung und Ausbildung. Doch ein echter Willen zu ihrer Behebung sei nicht zu erkennen. Im Gegenteil: Die "nachhaltige Verdummung der Gesellschaft" schreite weiter munter fort. Statt den Studierenden rechtzeitig "Grenzen" aufzuzeigen, "schlechte Leistungen auch als solche zu benennen" und die dermaßen Überforderten frühzeitig scheitern zu lassen, hätten es sich die Hochschulen im Verbund mit der Politik zur Aufgabe gemacht hat, diese wachsende Zahl von Unfähigen mit durchzuschleppen.

Leistungshürden werden abgebaut

Den sprachlichen Notstand, den die Dozentin ausruft und entdeckt sowie die beispiellose "Bildungsnivellierung", die an den Hochschulen stattgefunden hat, und die mich beim Lesen nicht zufällig an jene "nivellierte Mittelstandsgesellschaft" erinnert hat, die der Soziologe Helmut Schelsky in den Fünfzigerjahre noch am Horizont heraufdämmern sah, gilt mitnichten nur für die "akademische Bildung". Auch an allen anderen Bildungseinrichtungen des Landes, an Grund-, Mittel- und Realschulen genauso wie an Gymnasien, Berufsschulen und privaten Schulen sind diese eklatanten Mängel (Lücken in der Muttersprache) festzustellen.

Groß verwundern sollte diese Misere jedoch nicht. In den letzten Jahrzehnten sind im Zuge der Bildungsreformen Lerninhalte ständig abgeändert und geschliffen worden. Man hat vormalige Bildungs- und Leistungsstandards systematisch abgesenkt und gleichzeitig die Zugangsbeschränkungen für die weiterführenden Schulen systematisch aufgeweicht. Bis auf wenige Ausnahmen sind diese Hürden nach und nach fast vollkommen aufgehoben worden.

Zwar werden überall, in Sport, Kunst und Unterhaltung, Leistungsgrenzen und Leistungskontrollen für die Bewerber aufgebaut, um die Spreu vom Weizen zu trennen. Im Studio, auf dem Sportplatz oder auf dem Laufsteg lassen sich Tausende, auch auf Geheiß und mit kräftiger Unterstützung der Eltern vor einem Millionenpublikum von einer mehr oder minder kompetenten Jury vorführen und sich ihre Stärken und Schwächen vorhalten.

Nur im Schulbetrieb scheint man Auswahl und Zuweisung dem Lehrpersonal, für dessen Ausbildung der Staat eine Unmenge an Steuergeldern ausgibt, nicht zuzutrauen. Man stelle sich vor, der deutsche Skiverband, die Kölner Haie oder der FC Bayern würden ebenso verfahren und statt auf die akribische Beobachtung durch Talentscouts, Sichtungslehrgänge und Leistungskader lieber auf Inklusion und gemeinsames Lernen achten und dem Wunsch und dem Willen der Eltern folgen.

Offensichtlich rufen all diese Castings und Leistungsschauen, Bewertungen, Prüfungen und Begutachtungen keine bleibenden Schäden oder Traumata bei den Bewerbern hervor. Zumindest wird öffentlich darüber nicht debattiert. Nur im schulischen Umfeld ist das laut Eltern- und Lehrerverbänden gang und gäbe. Da wachen in der Nacht angeblich Acht- und Neunjährige schon schweißgebadet und mit Tränen in den Augen auf, weil sie dem Leistungsdruck, den der Übertritt ans Gymnasium erzeugt und den ihre Eltern schon bei der Geburt fest eingeplant haben, nicht standhalten.

Keiner darf zurückbleiben

Dabei ist im Prinzip doch alles gar nicht so schlimm wie allerorten getan wird. Für die Talentierten ist es eher leichter als schwerer geworden. Sie haben zwei Jahre Zeit, sich die Meriten dafür zu verdienen. Auch gibt es keine verbindliche Aufnahmeprüfung mehr wie noch zu meiner Zeit, der sich alle unterziehen mussten. Schließlich ist es in Bayern mit dem Jahreszeugnis noch möglich, den Übertritt an den gewünschten Schultyp zu schaffen. Und ist der Sprössling erst mal dort, muss er sich schon sehr dumm anstellen, wenn er die Schule wieder verlassen und an eine andere wechseln muss.

Erst jüngst klagte eine Realschullehrerin, dass es an ihrer Schule den Auftrag gäbe, allen Schülern, die den Übertritt einmal geschafft hätten, den Verbleib an der Schule zu sichern. Keiner dürfe zurückbleiben, so wohl auch hier die Losung, die die Politik vor Jahren, besorgt um heimlich schlummernde Talente und Begabungen, ausgegeben hat und jetzt auf Biegen und Brechen umgesetzt werden soll.

Liest man dazu einige sozialethische Verlautbarungen, dann ist es die Aufgabe, die Pflicht und das Kriterium einer "guten Schule", ständig die "Asymmetrie der pädagogischen Beziehungen" zu bedenken und den "Eigensinn der Lernenden" im schulischen Umfeld anzuerkennen.

Dank dieser "pädagogischen" Einsicht ist es auch an den Gymnasien Brauch und Unsitte geworden, Schüler, die den Anforderungen überhaupt nicht gerecht werden, mit durchzuschleppen. Das sprachliche Wissen, das ein Großteil der Gymnasiasten mittlerweile in der Unterstufe aufweist oder von der Grundschule mitbringt, ist teilweise erschreckend. Sie verwechseln nicht nur Wortarten mit Satzgliedern und kennen Zeitformen des Verbs nicht (schwamm, schwomm oder schwimmte), sie wissen auch nicht, wann oder warum ein ß oder ein ck geschrieben wird.

Zudem schaffen sie es kaum, einen sprachlich korrekten Satz zu formulieren und haben wenig Ahnung, wie man eine spannende Geschichte verständlich zu Papier bringen kann. So gesehen muss man das "Armutszeugnis", das die Dozentin den Gymnasien ausstellt, weil sie es nicht schaffen, ihren Schülern die Regeln der deutschen Sprache und Rechtschreibung beizubringen, relativieren.

Das Pferd von vorn aufzäumen

Dass die Leistungen so sind, wie sie sind, dürfte eigentlich niemanden überraschen. Wer der Überzeugung ist, dass ein Viertklässler mit einer Drei (also einer 3,5) in Deutsch oder Mathematik für ein Gymnasium geeignet ist, der braucht sich über das Niveau, das Wissen und die Qualität der Leistungen nicht zu wundern.

Bekanntlich beginnt der Fisch vom Kopf her zu stinken. Darum ist es falsch, das Pferd von hinten aufzuzäumen und die verfehlte Politik der Bildungsromantiker, die auch noch dem Minderbegabtesten den Weg zur Hochschulreife ebnen möchten, von der akademischen Bildung her zu lösen. Da ist das Kind längst in den Brunnen gefallen.

Das Dilemma, das Frau Bethke benennt, beginnt in den Grundschulen mit dem Unwillen von Politik, Verbänden und sozial bewegten Wissenschaftlern, die Kinder schon dort zum Lernen anzuhalten, sie richtig zu fordern und rechtzeitig entsprechende Hürden aufzubauen. In der Grundschule wird, beim Erlernen des Lesens, Schreibens und Rechnens, grundgelegt, was sich an den weiterführenden Schulen fortsetzt und in der Hochschule mit den Klagen der Dozentin endet.

Schon hier steht in aller Regel das soziale Miteinander, das gemeinsame Erleben und das inkludierende Lernen im Mittelpunkt. Das ist gewiss nicht ganz verkehrt angesichts der Vielzahl unvollständiger Familien, ihrer Finanzlagen und sozialer Probleme. Und gewiss ist es richtig und wichtig, Rücksicht auf die unterschiedlichen Lebenslagen, Lebensumwelten und Lebensumstände der Schüler zu nehmen. Aber natürlich nur bis zu einem gewissen Maß. Sonst werden Schulen überfordert.

Neben dem Erziehungsauftrag haben sie bekanntlich auch und vor allem den zur Bildung und Ausbildung. Schule ist und kann, auch wenn ihr das zugemutet wird, auf Dauer kein Reparaturbetrieb für mangelnde Hygiene oder fehlende Zuwendung im Elternhaus und zudem kein Vehikel zur Gesellschaftsveränderung sein. Sie kann höchstens unterstützend tätig werden, aber nicht fehlende Liebe, Empathie und Vertrauen ersetzen. In Vergessenheit gerät dabei mitunter, dass Schule vorwiegend eine Bildungseinrichtung ist, bei der Leistungen erbracht und gemessen, entsprechend eingefordert und angemessen honoriert werden.

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