Die amerikanische Mittelklasse erodiert

Nach einer Analyse der New York Times wird im Vergleich zu anderen Ländern die einst weltweit reichste Mittelschicht ärmer, während die Einkommensungleichheit in den USA anwächst

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Dass der amerikanische Traum schon länger verflogen ist, hatten nicht nur die Occupy-Proteste klar gemacht, sondern auch viele Studien zeigen, dass die Kluft zwischen Arm und Reich weiter wächst, während ein Aufstieg von unten nach oben immer schwieriger wird (USA: Armut als Schicksal, Millionär bleibt Millionär). Die Klasse der Reichen und Superreichen, die weltweit mit zu den führenden gehört, schottet sich ab, auch der demokratische Präsident Obama dürfte bestenfalls eine leichte Erhöhung des Mindestlohns erreichen, eine höhere Besteuerung der Vermögen konnte er nicht durchsetzen.

Die New York Times dokumentiert einen Niedergang. Unter dem Titel "Losing the Lead" wird gezeigt, dass offenbar das Wirtschafts- und Sozialsystem der USA nicht mehr führend ist, ohne das allerdings direkt zu benennen: "Die amerikanische Mittelklasse ist nicht mehr die weltweit reichste." Das scheint zu demütigen, da man in den USA doch der Meinung ist, die freie Welt vorbildlich führen zu können und zu müssen.

Für ihren Bericht hat die New York Times Daten der Luxembourg Income Study Database (LIS) ausgewertet. Die Datenbank enthält nach Angaben von LIS die meisten, permanent aktualisierten und harmonisierten Daten aus Umfragen in verschiedenen Ländern über mehrere Jahrzehnte. Benutzt wurden die standardisierten Daten über das verfügbare Einkommen nach Steuern pro Kopf und pro Haushalt aus 23 Ländern von 1979 bis 2010.

Obgleich das Wirtschaftswachstum in den USA mindestens so groß wie in den meisten anderen Ländern ist, profitiert davon nur ein kleiner Teil der Haushalte, so die New York Times. Das Durchschnittseinkommen in den USA war 2010 so hoch wie in Kanada, d.h. es ist relativ gefallen, wahrscheinlich hat Kanada bereits die USA überholt. Die durchschnittlichen Einkommen liegen in den westeuropäischen noch hinter denen der USA, aber der Abstand schrumpft, vor allem in Großbritannien, den Niederlanden und Schweden. Natürlich ist das in Ländern wie Griechenland oder Portugal anders.

Nach dem Pro-Kopf-Einkommen liegen die USA weiterhin weltweit an der Spitze. Dass das Vermögen höchst ungleich verteilt ist, ist allerdings keine Entdeckung der New York Times, sondern natürlich längst bekannt. Und wenn sich die Kluft zwischen Arm und Reich unverhältnismäßig vergrößert, was seit Jahrzehnten mit der Durchsetzung der neoliberalen Politik seit Reagan der Fall ist, dann dürfte auch klar sein, dass es Verlierer gibt, eben die Mittelschicht und die Menschen am unteren Rand der sozioökonomischen Schichten. Aber es ist natürlich ein Wachruf für die Mehrzahl der Amerikaner, dass sie gegenüber den vergleichbaren Schichten anderer Länder zurückfallen und ärmer werden.

"Die Vorstellung", so der Harvard-Ökonom Lawrence Katz, "dass der durchschnittliche Amerikaner ein größeres Einkommen als die Mittelklasse in anderen Ländern hat, trifft heute nicht mehr zu. In den 1960er Jahren waren wir bedeutend reicher als andere. In den 1980er Jahren waren wir reicher. In den 1990er Jahren waren wir immer noch reicher." Aber damit ist jetzt Schluss, weil der Reichtum stärker zu den eh schon Vermögenden fließt, wofür zuletzt noch stark Bush mit seinen Steuersenkungen gesorgt hat, die gleichzeitig zusammen mit den Kriegen die staatliche Verschuldung erhöht haben.

Das Durchschnittseinkommen pro Kopf lag in den USA 2010 bei 18.700 US-Dollar, 20 Prozent höher als 1980, aber inflationsbereinigt praktisch seit 2000 konstant. In Großbritannien und Kanada stieg seit 2000 das Durchschnittseinkommen allerdings um 20 Prozent, in den Niederlanden um 14 Prozent. Nur in einem großen europäischen Land ist das Einkommen in den letzen 15 Jahren stagniert, nämlich in Deutschland, wo das Lohneinkommen zugunsten der Exporte gedrückt wurde. Aber selbst in Deutschland gehe es den Armen besser als in den USA, wo das Einkommen pro Kopf in den mittleren und unteren Schichten zurückgegangen ist. Im unteren 20. Perzentil sind die Menschen in den USA seit den 1980er Jahren ärmer als in einigen europäischen Ländern geworden, in denen die Ärmeren noch mehr am Wirtschaftswachstum teilhatten. In den obersten Einkommensschichten liegen die reichen Amerikaner aber deutlich vor denen in Kanada, Großbritannien oder den Niederlanden.

Der Bericht der New York Times als Symptom für die ideologische Blockade in den USA

Die New York Times sieht hinter dem Niedergang der USA drei entscheidende Gründe. Angeführt wird als erster Grund, dass nach den PISA-Studien die Leistung der jungen US-Amerikaner mit denen in anderen Ländern nicht mithalten könne. Zweitens geben die Unternehmen weniger an die Mittelklasse und die Armen ab, während die Manager mehr verdienen. Der Mindestlohn sei geringer, die Gewerkschaften wären schwächer. Darauf hatte man auch lange hingearbeitet. Und drittens sei das Wirtschaftswachstum nicht größer gewesen, weswegen die meisten Amerikaner nur kleine Lohnerhöhungen erlebt hätten. Und dann würden eben westeuropäische Staaten und Kanada das Vermögen "aggressiver" verteilen, wovon eben die Reichen in den USA profitieren. Aber das sagt man so nebenbei.

Die New York Times meint, dass nach Umfragen und Interviews der Ärger in den USA höher als in Kanada und Nordeuropa sei, obwohl dort auch die Mittelklasse und vor allem die jüngere Generation leide. Man merkt davon allerdings nichts. Zwar ist es um die Tea-Party-Bewegung ruhiger geworden, aber seit dem Ende der Occupy-Bewegung ist keine neue Bewegung entstanden. Ideologisch scheint den Amerikanern, da schon Liberale als Kommunisten verschrien und die europäischen Staaten als altbacken angesehen werden, ein Aufbruch verwehrt zu sein, wozu auch das verkrustete, keine Innovation zulassende Zweiparteien-System seinen Beitrag leistet.

Deutlich für die Stimmung im Land ist das Schweigen der Autoren über die Konsequenzen. Man konstatiert den Zerfall des amerikanischen Traums, nennt einige Gründe dafür, aber das war es dann auch. Wirkliche politische Alternativen scheint es nicht zu geben, da könnte ein Wiederaufleben des West-Ost-Konflikts gelegen kommen. Das schafft wie schon nach dem Dotcom-Crash und 9/11 transatlantische Einheit gegen einen Feind. Die feinen oder weniger feinen Unterschiede kann man dann ebenso außer Acht lassen wie die Sozial-, Steuer- und Arbeitspolitik, weil doch Verteidigung und Sicherung des überlegenen politischen und wirtschaftlichen Systems vorrangig sind, also alles beim Alten bleiben muss. Allerdings scheint an der Ehre zu kratzen, dass die USA nicht mehr überall führend sind, abgesehen eben von der digitalen Ökonomie, der Zahl der Reichsten, den Ausgaben für das Militär oder die Kapazitäten der Überwachung.