Panzer und Kopfgeldprämien – Wie die Ukraine weiter zerrüttet wird

Kann man Panzer gegen die eigene Bevölkerung losschicken und Kopfgeldprämien gegen die Opposition ausschreiben? In der Ukraine, wo Oligarchen die Politik bestimmen und der schnelle Gewinn zählt, geht das

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

"Kinder, wollt ihr Piroggen?", fragte eine Frau in rosa Jacke Soldaten einer ukrainischen Luftlandeeinheit, die letzten Mittwoch in der ostukrainischen Stadt Kramatorsk einrückte (Was ist los in der Ostukraine?). Die Frau brauchte nicht lange warten. Sogleich kam ein junger Soldat angestratzt und nahm die Tüte mit den Piroggen mit einem herzlich "Spasibo" entgegen. Wenn man sich die Berge mit den von der Bevölkerung geschenkten Lebensmitteln auf den Schützenpanzern so anguckte, konnte man glauben, dass in Kramatorsk Volkshelden eingerückt waren. Doch mit ihren Essensspenden an die hungrigen Männer wollten die Anwohner nicht mehr erreichen, als dass die Soldaten möglichst schnell wieder aus der Stadt verschwinden. Als Geiseln von "Terroristen", die befreit werden müssen, fühlen sich die Einwohner der Stadt Kramatorsk mit ihren 165.000 Einwohnern nicht.

Der Kommandeur der Luftlande-Panzereinheit musste sich den Fragen der empörten Anwohner stellen. Das Bombardement an Fragen aufgebrachter Bürger ("Was wollt ihr hier?", "Auf wen wollt ihr schießen?", "Wer gab den Befehl?", "Wie heißen Sie?") und die Essensspenden führten dazu, dass die Einheit schließlich aufgab und abrückte.

Sechs der ukrainischen Schützenpanzer wurden jedoch unter lautem Hurra von Vertretern der "Donezk-Armee" übernommen. Die Männer dieser inoffiziellen Armee sind leicht an ihrer guten Ausrüstung und dem orange-schwarzen Georgi-Bändchen an den Uniform-Jacken zu erkennen. Erstaunlich war, dass bei der Auseinandersetzung kein Schuss fiel.

Russische Waffen und Uniformen sind noch kein Beweis

Die von westlichen Medien aufgestellte Behauptung, unter den Aufständischen in der Ost-Ukraine seien viele russische Staatsbürger und Instrukteure russischer Sicherheitsstrukturen, wurde bisher von Niemand wirklich belegt. Die russisch-ukrainische Grenze ist für Männer in wehrfähigem Alter seit Wochen so gut wie dicht. Sicher kann man nicht ausschließen, dass der ein oder andere Russe unter den Männern der sogenannten Donezk-Armee ist. Aber die Anwesenheit von Russen unter den Aufständischen allein an russischen Waffen oder Uniformteilen zu beweisen, wie es viele westliche Medien tun, ist nicht seriös.

Viele Waffen und Uniformen in der Ukraine und Russland sind ähnlich oder gleich. Und es gibt viele Mitglieder ukrainischer Spezialeinheiten, die unter Präsident Viktor Janukowitsch gedient haben und nun auf Seiten der Aufständischen stehen. Dazu gehören unter anderem die Mitglieder der Polizei-Spezialeinheit Berkut, deren Mitglieder von den neuen Machthabern in Kiew Ende Februar pauschal als "Mörder" bezeichnet wurden. Die Einheit wurde aufgelöst.

Nun ist plötzlich Not am Mann. In den ukrainischen Sicherheitsstrukturen herrscht ein Mangel an erfahrenen Kämpfern. Und so veröffentlichte das ukrainische Innenministerium letzte Woche einen Aufruf an die ehemaligen Berkut-Polizisten, sich doch bitte wieder in die die offiziellen Sicherheitsstrukturen einzugliedern, denn "Mutter Heimat" sei in Gefahr. Doch der Aufruf kam zu spät. Es wurde nicht bekannt, dass sich Jemand meldete.

Die Mitte April von der Regierung in Kiew gestartet "Anti-Terror-Operation" hat bisher fast keine Erfolge gebracht. Über zehn ostukrainische Städte sind faktisch in der Hand der Aufständischen. In Slawjansk kontrollieren die Aufständischen nicht nur Verwaltungsgebäude, sondern auch die Kommunalversorgung.

Unbewaffnete stoppen Panzer

Was in Kramatorsk passierte, ist kein Einzelfall. Im Süden und Osten ist die Kriegsgefahr mit Händen zu greifen und die Anwohner bleiben nicht untätig. Hunderte von unbewaffneten Bürgern in Städten des Donezk-Gebietes haben ukrainische Militärkolonnen zum Umdrehen gezwungen wie in Wolnowacha.

Sie haben nach Verhandlungen Soldaten entwaffnet wie in Artjomowsk, Panzer zu Fuß über Felder verfolgt und gestoppt wie in Rodinskoje oder versucht, wild um sich schießende ukrainische Soldaten mit den bloßen Händen zu stoppen wie letzte Woche in Nowoselowka, während ein Kampfhubschrauber in der Luft kreiste.

Aufständische bereiten Referendum vor

Unklar ist, wie unter den derzeitigen Bedingungen in der Ost-Ukraine die für den 25. Mai geplanten Präsidentschaftswahlen durchgeführt werden sollen. Der Stellungskampf zwischen den ukrainischen Eliteeinheiten, die versuchen, besetzte Gebäude zurückzuerobern, kann sich noch Wochen hinziehen.

Soviel steht fest: Am 11. Mai – also zwei Wochen vor den Präsidentschaftswahlen – wollen die Separatisten der am 7. April gegründeten "Donezk-Republik" in der Ost-Ukraine ein Referendum durchführen. Drei Fragen stehen zur Abstimmung: der Erhalt der Ukraine in seiner jetzigen Form, die Föderalisierung der Ukraine und die Vereinigung der ostukrainischen Regionen mit Russland. Nach der Stimmung in der Bevölkerung zu urteilen, werden für alle drei Fragen etwa gleich viele Menschen stimmen.

Dass Russland der Erklärung von Genf zustimmte, welche die Entwaffnung aller bewaffneten Einheiten vorsieht, und dass Moskau immer wieder betont, man werde nicht in die Ukraine einmarschieren, könnte darauf hindeuten, dass dem Kreml die Aufstandsbewegung in der Ost-Ukraine auch ein bisschen unheimlich ist. Denn auch in den Industriegebieten in der russischen Provinz gibt es soziale Brennpunkte. Nachahmer beim sozialen Protest kann der Kreml in Russland nicht gebrauchen.