Waren die Nazis Europafeinde?

Wie hitlerdeutsche Politikplaner eine "Europäische Gemeinschaft" entwarfen

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Die Regierungen in der EU, unter einander allerdings strategisch keineswegs einig, sind damit beschäftigt, aus dem Desaster ihrer Ukraine-Politik denn doch noch einen halben Erfolg zu machen - das Land soll ohne allzu hohe Kosten "europäisiert" werden - ein riskantes Unternehmen. Und gleichzeitig läuft der Wahlkampf für das Europäische Parlament an, das Interesse der Bürger an diesem Vorgang ist gering, die Skepsis gegenüber "Brüssel" groß; also sind hierzulande die Parteien der Großen Koalition darum bemüht, ihre Anteile an den Stimmen wenigstens zu halten und EU-kritische Bewerbungen um Mandate an Erfolgen zu hindern.

Insbesondere der Vizekanzler tut sich hierbei rhetorisch hervor, er wettert gegen "Feinde Europas rechts wie links", die deutschem Nationalismus verfallen seien. Die Lehre aus der Geschichte des "Dritten Reiches" sei doch, so sagen es nebst Sigmar Gabriel auch die anderen politischen Prominenzen, dass eine deutsche "Abwendung vom europäischen Gedanken" ins Unheil führe.

"Europafeindliche" Politik damals habe zwei schreckliche kriegerische Konflikte zwischen europäischen Völkern hervorgerufen, deshalb sei nach 1945 die Einigung Europas angezielt worden. Und nun sei die Europäische Union die Garantie für den Frieden. Das klingt wie ein Argument, dem man sich als verständiger Mensch mit demokratischem Weltbild nicht entziehen kann. Mit der historischen Wirklichkeit allerdings hat es wenig zu tun. Ein Blick zurück, in die deutsche Ideenwelt des Jahres der Zeit vor dem Untergang des Hitlerstaates:

Wir können heute die begründete Hoffnung aussprechen, dass mit diesem zweiten Weltkrieg die Epoche der Kriege innerhalb Europas für alle Zeiten beendet sein werde. Dies ist zunächst das wesentlichste Ergebnis, das dieser Krieg zeitigen muss.

So zu lesen in dem Buch "Das Zeitalter des Ikarus - Von Gesetz und Grenzen unseres Jahrhunderts", im Jahre 1944.

Ein Gegner der Nazis, der einen solchen Gedanken zu Papier und heimlich unters Volk brachte? Keineswegs. Autor der Schrift war Giselher Wirsing, eine Spitzenkraft der NS-Publizistik, eng verbunden mit Himmlers Reichssicherheitshauptamt, Herausgeber des einflussreichen Periodikums "Das XX. Jahrhundert", Hauptschriftleiter der "Münchener Neuesten Nachrichten" und der Wehrmachtsillustrierten "Signal", die NS-Propaganda in den deutschbesetzten Ländern Europas betrieb; das "Ikaros"-Buch erschien im systemtreuen Verlag Diederichs in hoher Auflage.

Die antike Sagenfigur im Titel sollte nicht etwa andeuten, dass Deutschland mit seinem Drang nach der "Sonne" sich die Flügel verbrannt habe. Wirsing philosophierte vielmehr über ein neues globalpolitisches "Luftzeitalter", in dem die europäischen Völker in den Abgrund geraten würden, wenn sie nicht Bodenhaftung fänden durch Zusammenschluss zu einem "Großraum", der dem "Osten", dem "Sowjetismus", entgegentreten und mit dem transatlantischen "Westen", den USA, in Konkurrenz treten müsse. Selbstverständlich war bei Wirsing dem Deutschen Reich die Führungsrolle im vereinten Europa zugedacht, es habe dafür ja auch genug soldatische Opfer gebracht.

Aus der "wirtschaftlichen Schicksalsgemeinschaft Europa" sollte eine "deutsch bestimmte Völkergemeinschaft" werden

SS-Intellektuellen wie Wirsing war ab Mitte 1944 klar geworden, dass Hitlerdeutschland militärisch ins Hintertreffen geriet. Verstärkt warben sie nun um Hilfstruppen aus anderen europäischen Ländern, um "europäische Legionen" unter deutschem Kommando - und zugleich sandten sie Botschaften der Bündnisbereitschaft aus an die angelsächsischen Mächte, an England, das leider 1939 die "europäische Idee verraten" habe, dies aber noch wiedergutmachen könne, und an die Vereinigten Staaten von Amerika. Die hatte Wirsing bis dahin heftig beschimpft ("Der maßlose Kontinent" hieß sein 1942 erschienenes Propagandabuch über die USA), doch nun wurden neue Bundesgenossen gesucht für den "Kampf gegen den Bolschewismus", eine politische Strategie, mit der sich kurz vor Torschluss dann auch der Reichsführer SS anfreundete.

"Wochenschrift für europäische Politik, Wirtschaft und Kultur" nannte sich eine üppig ausgestattete Zeitung unter dem Titel "Neue Ordnung", die ab 1941 in Zagreb von dem in faschistischer Polemik besonders talentierten deutschen Journalisten Hermann Proebst herausgegeben wurde. Mit eifriger Unterstützung der Führer des kroatischen Ustascha-Staates warb sie für die deutsch-europäische "Großraum"-Politik speziell im balkanischen Terrain - ähnliche Organe hatten das Ribbentrop-Ministerium und die SS-Zentrale in anderen europäischen Ländern angesiedelt. Auch hier hießen im Jahre 1944 die Schlagzeilen: "Der Kampf um das Abendland", "Der Kontinent schlägt zurück - gegen die Europafeinde".

Noch im Januar 1945, der "Endkampf" zeichnete sich schon ab, hielt der SS-Führer und "Raumordnungs"-Experte Alexander Dolezalek vor NS-Funktionären einen höchst anspruchsvollen Schulungsvortrag zu dem Thema "Was ist europäisch?". Auch Dolezalek bemühte die Geschichtsphilosophie, als deutsche Mission stellte er heraus, durch "militärische und politische Kriegsführung" dafür zu sorgen, dass aus der "wirtschaftlichen Schicksalsgemeinschaft Europa" eine "deutsch bestimmte Völkergemeinschaft" werde, die im Inneren Frieden halte. Offenbar erwartete Dolezalek, ein solches Konzept könne längerfristig auch nach einem für Deutschland verlorenen Krieg sich durchsetzen; er schloss seine visuell gestützten Ausführungen mit dem Dürer-Bild "Ritter, Tod und Teufel" und schrieb darunter in großer Schrift: "Der Aufgang des Abendlandes".