Brazuca: das Eckige im Runden

Kombinatorische Parkettierungen der Kugel

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Zugegeben: Eigentlich geht es hier um Fußball, d.h. um den im Spiel verwendeten Ball. Der Titel soll nur Fußballallergiker irreführen, so dass wir heimlich die Anzahl der negativen Kommentare im Forum minimieren. Jedoch, wie Freund und Feind des Spiels weiter unten lesen können, den "perfekten" Fußball zu entwerfen, ist keine triviale Aufgabe. Von der NASA bis zu der Forschungsabteilung der Bayer AG wird daran gearbeitet, die besten Materialien und die beste Oberfläche für optimale Flugeigenschaften zu finden. Das wussten schon Archimedes und Plato.

Fußbälle im Lauf der Geschichte

Als Kind habe ich zu den heroischen Zeiten Fußball gespielt, als der Ball noch aus Leder bestand. Solche Lederbälle geben nicht so sehr nach wie die heutigen Kugeln aus Kunststoff. Außerdem saugt das Leder Wasser an, so dass der Ball bei einem nassen Spielfeld schwerer und hart wie ein Stein wird. Kopfbälle haben die kindlichen Schädel damals deutlich mehr beansprucht als die Schulfächer. In den Pausen haben wir unter der prallen Sonne von Mexico gespielt - nach der Pause haben wir nichts mehr verstanden. Dagegen fühlen sich moderne Kunststoffbälle beim Kopfball fast wie Luftballons an.

Jenes Runde, was ins Eckige soll, hat eine recht lange und verwinkelte Geschichte sowie auch Berührungspunkte mit der Geometrie, insbesondere mit der Geometrie der konvexen Körper und der Sphäre. Der/die MathematikerIn kann mit seinem bzw. ihrem geistigen Auge mehrere Lösungen für das Problem der perfekten Fußballform erkennen. Das wollen wir hier besprechen.

Fußball als solches ist ein Spiel des 19. Jahrhunderts - historische Vorläufer des Ballspiels sind jedoch in mehreren Kulturen und mit verschiedenartigen Bällen zu finden. Bereits im 15. Jahrhundert hatten die Italiener den "calcio fiorentino" erfunden, ein blutiges Gefecht, bei der zwei Mannschaften mit Händen, Füßen und Fäusten um den Ball kämpften. Im England des Mittelalters sind ganze Dörfer gegeneinander angetreten. Die Masse hat einen Ball zum jeweils gegnerischen Dorf getrieben.

Bei solchen Schlachten war es unerheblich, ob der Ball aus Stoff oder einem sonstigen Material gefertigt war. Aber ab dem 17. Jahrhundert wurden nach und nach die Regeln des späteren Fußballs in englischen Schulen eingeführt und verbreitet - bis 1863 die Football Association in England verbindliche Regel festlegte. Auch Gewicht und Größe des Balls wurden ausgemacht.

Am Anfang wurden die besten Fußbälle aus Leder angefertigt, mit einem aufblasbaren Element im Inneren, das häufig aus Schweineblasen gewonnen wurde. Die Spanier waren zu Recht ziemlich überrascht, als sie bei der Eroberung Mexikos die ersten flexiblen und hochspringenden Kautschukbälle zu sehen bekamen. Jedoch musste die massive und industrielle Nutzung von Gummi bis zur Erfindung der Vulkanisierung bis Mitte des 19. Jahrhunderts durch Charles Goodyear und Thomas Hancock warten. Durch diesen Prozess werden die Kautschukpolymerketten miteinander verbunden, was dem Material eine einstellbare Härte und Elastizität verleiht. Damit konnten zum ersten Mal Dichtungen für Dampfmaschinen und später eben aufblasbare Latexkugeln hergestellt werden.

Eine aufblasbare Kugel ist jedoch zu weich. Die Oberfläche muss deswegen mit widerstandsfähigeren Elementen überzogen werden. Bis in die sechziger Jahre war Leder immer noch das meistverwendete Material. Aber wie viele Oberflächenelemente sollte man für die Herstellung verwenden und mit welcher Form? Diese Frage hat schon die Griechen beschäftigt.

Platonische und archimedische Körper

Gut, ich habe etwas übertrieben, das war nicht gerade die Frage, die Plato und Archimedes bewegt hat. Aber ich habe schon einmal den berühmten Mathematiker Ken Ribet aus Berkeley gehört, wie er den Pythagoras-Satz mit der Bemerkung vorstellte, die Griechen wollten nur wissen, ob eine Pizza mit Durchmesser gleich die Hypotenuse eines rechteckigen Dreiecks mehr zu essen ergab als zwei Pizzas mit jeweils dem Durchmesser der Katheten.

Was die griechischen Geometer tatsächlich bewegte, war die Frage nach der Anzahl der regulären Polyeder, d.h. solche mit kongruenten polygonalen Seiten und bei denen an jeder Ecke die gleiche Anzahl von Kanten andockt. Es gibt davon nur fünf, wie schon Euklid in Buch XIII der "Elemente" darlegen konnte. Dennoch heißen solche Polyeder "platonische Körper", weil Plato in seinem Dialog Timaios auf sie eingeht. Will man nun die Oberfläche einer Sphäre komplett mit sphärischen Polygonen abdecken, bietet sich sofort an, die sogenannten platonischen Körper als Inspiration in Betracht zu ziehen.

Wie oben gesagt, sind die Seiten von platonischen Körpern alle gleich: es können gleichseitige Dreiecke, Quadrate oder Pentagone sein. Es gibt nur platonische Körper mit je 4, 6, 8, 12 und 20 Seiten. Wir nennen sie Tetraeder, Würfel, Oktaeder, Dodekaeder und Ikosaeder (Abb. 1). Es ist offensichtlich: je mehr Seiten der Körper hat, desto "rundlicher" wird er.

Ein platonischer Körper aus flexiblem Material und mit 12 (Dodekaeder) bzw. 20 Seiten (Ikosaeder) könnte aufgeblasen werden und käme ziemlich nah an eine Kugel. Man kann sich aber alternativ vorstellen, dass man den platonischen Körper in der Mitte einer Kugel platziert und alle dessen Kanten auf die Oberfläche der Kugel projiziert: Das ergibt die ideale Form der Oberflächenelemente, die man für die komplette Abdeckung der Kugeloberfläche braucht.

Das ist gerade das, was die Firma Nike mit dem neuen Fußball "Ordem" getan hat. Als Projektionskörper wurde das Dodekaeder verwendet. Die Oberflächenelemente sind deswegen große sphärische Fünfecke, die Seite an Seite an die aufblasbare Kugelform geklebt werden. Allerdings enthält jedes fünfseitige Element in dessen Mitte ein weiteres kleineres Fünfeck, so dass die Anzahl der "Nähte" bzw. Kanten (eigentlich Vertiefungen der plastischen Oberfläche) viel größer als bei einem Dodekaeder ist und die entsprechenden Furchen dichter verteilt sind.

Die Aufgabe der Vertiefungen besteht darin, Mikrowirbel wie bei einem Golfball zu erzeugen, so dass der Ball durch die Luft "gleitet". Je mehr Nähte, desto besser für die ballistischen Eigenschaften des Balls. Der "Ordem" hat darüber hinaus Tausende von kleinen Noppen, die den Ball griffiger für den Torwart machen, die aber auch ausschlaggebend für die Erzeugung von zusätzlichen Mikrowirbeln sind.

Abb. 2: Der "Ordem" Ball von Nike. Bild: Nike

Der Mathematiker kann sich beim Betrachten des "Ordem" nur begeistern. Offensichtlich ist der Nike-Ball ein Hybrid: Schaut man genauer hin, erkennt man, dass die kleinen Fünfecke an Sechsecken ankoppeln, so dass wir einen Ball aus fünf- und sechseckigen Elementen bekommen. So eine Figur ähnelt einem sogenannten archimedischen Körper. Nike ist also der Kunstgriff gelungen, in einem Ball sowohl einen projizierten platonischen als auch eine eine Approximation eines projizierten archimedischen Körpers unterzubringen!

Abb. 3: Ein klassischer Fußball (rechts), ein Ikosaederstumpf (links). Bild: Maksim. (public domain)

Aber gehen wir das ganze langsam durch. Es kann nur fünf platonische Körper geben, da an jeder Ecke drei oder mehr Polygone ankoppeln. Ein Pentagon hat an jeder Ecke innere Winkel von 108 Grad. Man kann deswegen drei Fünfecke mit einer gemeinsamen Ecke aneinander kleben. Da die Summe der Winkel kleiner als 360 Grad ist, müssen die Polygone sich nach innen verbiegen, damit auch die Kanten der Fünfecke aneinander liegen. Würde man dagegen drei Sechsecke aneinander legen, würden sich die Winkel an der gemeinsamen Ecke zu genau 360 Grad addieren, da an jeder Ecke eines Sechsecks der innere Winkel 120 Grad beträgt. Die drei Hexagone können dann nur flach liegen, d.h. auf einer Ebene. Man kann damit keinen konvexen geschlossenen Körper bilden.

Es lässt sich daher zeigen, dass als Seitenelemente für einen geschlossenen konvexen regulären Polyeder nur Dreiecke, Vierecke und Fünfecke als Seitenelemente in Frage kommen. Plato fand diese Regularität und Abgeschlossenheit so wunderbar, dass für ihn die Welt aus solchen elementaren Strukturen bestand.

Bei archimedischen Körpern erlaubt man die Benutzung von verschiedenartigen Polygonen als Seitenelemente, d.h. man kann zwei oder mehr kongruente Polygone verwenden. Die Ecken sind alle gleich. Einige archimedische Körper erhält man direkt aus dem platonischen Körper, wenn man die Ecken abschneidet. Zusätzliche Kombinationen sind möglich, wie Abb. 4 zeigt. Wichtig ist, und nur so ist der Körper archimedisch, dass jede Ecke durch Rotation und Reflektion in jede andere transformiert werden kann.

Abb. 4: Die Archimedischen Körper. Die abgeschrägten Hexaeder und Dodekaeder gibt es in jeweils zwei spielgelbildlichen Varianten. Bilder: Cyp. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Betrachten wir Abb. 4 genauer: Den Ikosaederstumpf erhält man durch das Abschneiden der Ecken des Ikosaeders. Aber auch einen Würfel oder ein Dodekaeder kann man ähnlich "abrunden". Es ergeben sich verschiedene Polygone und eine unterschiedlich Anzahl von Seiten.

Jetzt muss man ökonomisch denken: Welcher Körper wirkt symmetrischer und rundlicher und hat einfach zu erstellende Seiten? In Frage käme der Ikosaeder mit seinen 20 dreieckigen Seiten oder eben der Ikosaederstumpf mit 32 Seiten (20 Fünfecke und 12 Sechsecke). Ein Würfelstumpf hätte den Nachteil, dass Achtecke sich mit Dreiecken abwechseln. Beim Aufblasen der archimedischen Körper zu einer Kugel hätte man sehr unterschiedliche Oberflächenspannungen. Kurioserweise ist gerade beim Ikosaederstumpf der Unterschied in der Seitenanzahl der Polygone minimal (6 minus 5), bei einer respektablen Anzahl von Seitenelementen. Der Ikosaederstumpf gewinnt, falls wir den archimedischen Körper als Ball aufblasen wollen.

Parkettierungen der Kugel

Aber nicht so ungestüm. Schließlich geht es darum, eine Kugel mit Oberflächenelementen zu "parkettieren" und es kommen andere Lösungen in Frage, die man direkt an der Kugeloberfläche entwerfen kann. Das ist, wie im Titel versprochen, was man Parkettierungen der Kugel nennt und darüber haben sich einige Mathematiker den Kopf mehr als beim Kopfball zerbrochen.

Abb. 5: Eine Parkettierung der Kugel mit kongruenten rechteckigen Dreiecken. Bild: St. Mary's University

Die Idee ist, wie in Abb. 5 dargestellt, ein Element zu nehmen, z.B. ein sphärisches Dreieck, und damit die Kugeloberfläche komplett abzudecken. Strandbälle sind z.B. wie Orangen parkettiert: Großkreise durch zwei Gegenpole definieren Oberflächenelemente, die man aneinander kleben kann. Fantasievollere Lösungen haben zu einer umfangreichen Literatur geführt, wo die Mathematiker mit immer neuen Vorschlägen um die Abdeckung der Kugel wetteifern.

Maurits Cornelis Escher hat sich auch mit diesem Problem befasst. Seine wundervollen Parkettierungen der Ebene sind gut bekannt. Mit der Kugel hat er solche Skulpturen geschaffen.

Der Brazuca von Adidas

Diese ganzen Prolegomena waren notwendig, um zu zeigen, dass die Mitarbeiter von Adidas auch nur mit Wasser kochen. Der neue Ball für die Fußballweltmeisterschaft wurde vor Monaten mit viel Tam-Tam vorgestellt. Der Name "Brazuca" wurde von den brasilianischen Fans per Internet-Abstimmung gewählt - was allerdings Internet-Abstimmungen sogleich ins schlechte Licht rücken lässt. "Brazuca" ist ein synthetischer Ball: nur Polymerchemie mit geklebten Verstärkungen aus Stoff. Die Forschungsabteilung der Bayer AG wirbt für ihre Produkte stolz mit dem "Brazuca".

Abb. 7 zeigt die Oberflächenstruktur des Balls. Sechs Oberflächenelemente aus Polyurethan werden an eine aufblasbare Kugel angebracht, die vorher mit angeklebten Stoffverstrebungen verstärkt wurde, bevor das Ganze mit einem weißen plastischen Material übergossen wird. Anders als bei dem "Jabulani" der WM 2010 wird nichts mehr per Hand genäht - es wird alles mit Kleber oder thermisch miteinander verbunden. Die sechs Oberflächenelemente werden an den Ball angebracht und das ganze wandert in eine thermische Presse, wo alle Bestandsteile fest verbunden werden.

Mit so viel interner Verstärkung verliert Brazuca die Form nicht mal, wenn die Luft entweicht. Das Ganze ist 427 Gramm schwer. Die Polyurethan-Komponenten sind wasserdicht. Der Ball gewinnt weniger als 0,2% an Gewicht wenn das Feld nass ist, während die verklebten Polyurethanteile elastisch sind und eine Art mitgelieferten Schutz für den zarten Kopf der Fußballmillionäre bilden. Der Ball ist in Windkanälen ausführlich getestet worden (sogar die NASA beteiligt sich an solchen Tests, z.B. 2010 bei dem "Jabulani") und ein robotisches Bein hat den Ball tausende Male getreten.

Abb. 7: Die Struktur von Brazuca. Bild: TP

So phantasievoll wie der Brazuca aussieht, so einfach ist jedoch die zugrundeliegende Geometrie. Der Brazuca ist nämlich eigentlich ein Würfel, d.h. ein in der Kugel zentrierter Würfel, dessen Ecken an die Kugeloberfläche projiziert wurden. Ein Würfel hat sechs Seiten - der Brazuca hat auch sechs kongruente Oberflächenelemente, die den Seiten des Würfels entsprechen.

Abb. 8: Verformung der Seiten eines Würfels für eine Projektion auf die Kugeloberfläche. Bild: Raúl Rojas

Klar: Die Oberflächenelemente sehen nicht wie Quadrate aus. Aber sie stammen aus Quadraten, deren Kanten verformt wurden. Man kann die Idee leicht mit einem Diagramm erläutern. Abb. 8 zeigt links den Bausatz für einen Würfel, wie ihn jeder sicherlich schon einmal in der Schule gebastelt hat. Wenn man jetzt eine Kante im Computer verformt und dabei aufpasst, dieselbe Verformung der Reihe nach in allen Kanten durchzuführen, so dass alle Winkel an den Ecken gleich bleiben, so sieht man sofort, dass der Würfel immer noch geschlossen bleibt. Wenn man jetzt diese gekrümmten Seiten auf die Oberfläche der Kugel projiziert, erhält man etwas Ähnliches wie die Brazuca-Oberflächenelemente.

Jetzt muss man sich dieselbe Strategie im Computer vorstellen, aber direkt an der Oberfläche der Kugel ausgeführt (ausgehend von einer Würfelprojektion). Man muss bei der Verformung nur die Symmetrie der neuen Kanten beachten, so dass alle Kanten bündig aufeinander stoßen können. Dies ist nicht weiter schwierig zu implementieren (Carlo Sequin hat in Berkeley ein entsprechendes Programm für 3D-Drucker entwickelt). Ein Designer bei Adidas würde deswegen ausrufen: Gib mir einen Computer und ich werde die Welt aus den Angel heben! Archimedes brauchte dafür nur einen Stützpunkt.

Abb. 9: Was die Welt im Innersten zusammenhält (elektronenmikroskopische Aufnahme vom Autor)

Summa summarum haben wir hier gesehen, dass klassische Bälle auf den Ikosaederstumpf zugreifen, dass Nike der Kunstgriff gelungen ist, einen platonischen und eine Appromaximation eines archimedischen Körpers im Ball unterzubringen, während Adidas auf Eschers Spuren wandert, wobei die Firma den schlichten Würfel als Designgrundlage nahm.

Im tiefen Inneren des runden "Brazuca" liegt ein eckiger Würfel. Das Eckige im Runden.