Das offene Schulsystem bringt die Bildung zur Strecke

Schuldorf Bergstraße in Seeheim-Jugenheim, Hessen, 25. April 1958. Fotograf: Dr. Gerhard Ilgner. Bild: Deutsches Bundesarchiv, B 145 Bild-F005512-0020, CC-BY-SA

Wie Bildungsromantiker in Politik und Wissenschaft mit ihren Reformen das Lernen und Erkennen an Schule und Hochschule ruinieren - Teil II

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Meist wird da, wo ein Bocksgesang über Schule und Bildung angestimmt wird, der Ruf nach mehr Personal und kleineren Klassen laut. In aller Regel wird er von den Lehrerverbänden erhoben und von einigen Elternvertretungen unterstützt. Die Politik ist diesen Forderungen, was öffentlich und von den Interessengruppen oftmals zu wenig gewürdigt wird, in den letzten Jahren auch Stück für Stück nachgekommen.

Kein Problem der Finanzen

Zwar sitzen in den gymnasialen Klassen immer noch an die dreißig Schüler. Und es fallen auch etliche Stunden noch aus, weil Personal fehlt und die Erkrankungen der Lehrerschaft nicht weniger werden. Doch hat sich das im Vergleich mit den Jahren zuvor merklich gebessert. Die Realschule ist vielleicht, wegen des starken Zulaufs in den letzten Jahren, noch ein wenig eine Ausnahme. Aber an den Grund- und Mittelschulen haben sich die Klassenstärken jedenfalls deutlich vermindert.

Geändert hat sich an der Lernsituation, und das ist das Bemerkenswerte, aber wenig. Im Gegenteil: In den Klassen geht es oftmals noch viel zu laut zu. Die Lehrkräfte kämpfen häufig weniger mit der Stofffülle, neuen Unterrichtsformen oder komplizierten Lerninhalten als vielmehr mit der Ruhe und der Disziplin in den Klassen. Weil zu viele Ungeeignete, Überforderte und Lernunwillige sich im falschen Schultyp wiederfinden, entwickeln diese Schüler begreiflicherweise wenig Sinn fürs konzentrierte Lernen und Arbeiten.

Stattdessen suchen sie, weil sie sonst keine größere Anerkennung im Verbund finden, ihr Heil viel lieber im Dummschwätzen oder Herumzicken, im Machogehabe oder in Tagträumereien. Darum haben die Lehrer alle Hände voll zu tun, die Schüler im Zaum zu halten und zumindest den Talentierten, Begabten und Willigen einen guten und geordneten Unterricht zu bieten.

Und das ist auch mit ein Grund, warum die in den jeweiligen Lehrplänen häufig sehr anspruchsvoll formulierten Lernziele in der Praxis kaum umgesetzt werden können. Weder mit einer Hilfskraft mehr im Klassenzimmer noch mit ein paar Kindern weniger im Verbund ist eine Ausrichtung des Lernens, wie sich das die Bildungsbewegten in ihren kühnen Träumen gern vorstellen und sich in der Theorie ausmalen, auf das individuelle Können und unterschiedlichen Geschwindigkeit des Lernens möglich.

Bislang hat noch niemand dieser Schlauberger überzeugend darlegen können, wie das, was mit den pädagogischen Schlagwörtern der "Differenzierung" und "Individualisierung" des Lernens und des Unterrichtens belegt ist, erfolgreich und gewinnbringend für alle in der Klasse umgesetzt werden kann.

Das Problem, das bei dieser Art von Lernen, zusammen in der Kleingruppe, binnendifferenziert oder individualisiert, entsteht, sind weniger die unterschiedlichen Aufgabenstellungen, als vielmehr die Frage, wie sich die unterschiedlichen Lernformen, Lerninhalte und Lernniveaus wieder zusammenführen und auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Von der zeitlichen Dauer und der Korrektur, der Kontrolle bzw. Überprüfung der Ergebnisse und dem darauf folgenden Abtesten des Gelernten mal ganz zu schweigen.

Anleitung durch Fachleute

Insofern wird verständlich, warum Frau Bethke in ihrem Artikel einen wunden Punkt anspricht und auf eine mögliche Fehlerquelle im Unterrichten hinweist. Ihrer Ansicht nach ist der mangelnde Wille zur "Anleitung" durch einen Fachmann für die Bildungsmisere mitverantwortlich. Seit die Bildungsromantiker den "Frontalunterricht" als Grundübel des Lehrens und Vermittelns von Wissen und Kenntnissen ausgemacht und ihn als motivations- und bildungshemmend für die Schüler ausgegeben haben, ist man in den Fachkommissionen dazu übergegangen, beim Erlernen von Inhalten vermehrt auf die Fantasie, Kreativität und Motivation der Lernenden zu setzen und die Aneignung der Lerninhalte in ihre Obhut zu legen.

Nach Meinung dieser "Bildungsexperten" sollte fast nichts mehr vorgegeben werden. Der Lerncoach, so der terminus technicus für den Unterrichtenden, soll nur noch Material bereitstellen - das möglichst reichlich - und dann auf die Eigenregie und den Einsatzwillen der Lernenden hoffen. Dass man davor unter Anleitung und vorheriger Übung das handwerkliche Rüstzeug dafür erst mal erwerben sollte, das Lesen, Schreiben und Rechnen genauso wie das Nachschlagen, Entnehmen und Einordnen von Inhalten und Informationen oder auch die Fähigkeit, einen Text erlesen, verstehen und möglicherweise auch noch deuten zu können, ist dabei völlig aus dem Blick geraten.

Alain Finkielkraut hat jüngst in "L'Identité malheureuse" diesem Trend gehörig die Leviten gelesen und den Schulen seines Landes vorgehalten, dass sie mit dieser Art des Lernens lauter "Kreative" hervorbringen, die weder "etwas zu vererben noch zu vermitteln" haben. Die Wurzeln zu Tradition und Klassik, so der konservative Intellektuelle, seien abgetrennt worden. "Die offene Schule hat nicht die Bildung zum Volk, sondern das gebildete Volk zur Strecke gebracht."

Zu gute Bewertungen

Begeisterung erzeugen ist das eine, abverlangen aber das andere. Daran hapert es derzeit wohl am meisten. Und da liegt auch der Hase im Pfeffer. Viele Dozenten, Lehrer und Unterrichtende trauen sich nicht mehr, schlechte oder nicht erbrachte Leistungen zu kennzeichnen und angemessen zu bewerten. Die Verunsicherung wird durch Bildungspolitiker, die wie die zuständige Ministerin in Schleswig-Holstein jüngst wieder die stufenweise Abschaffung der Noten in der Schule verlangt und an deren Stelle Tabellen und Berichte einführen will, sicher nicht geringer.

Dabei werden schon jetzt in vielen Schulen viel zu viele gute und sehr gute Noten verteilt, insbesondere in den musischen, praktischen und geisteswissenschaftlichen Fächern. Und zwar an den Schulen ebenso wie an der Universität, unabhängig davon, ob es sich um Befragungen, Proben oder Abschlussprüfungen handelt. Dadurch, dass die Schulen und Universitäten in Konkurrenz und Vergleich zu- und miteinander stehen und dahingehend auch von den Schul- und Kultusbehörden überwacht und kontrolliert werden, steht es in ihren ureigenen Interessen, dass die Zensuren positiv ausfallen.

Durch die Vergabe von nur noch positiven Zensuren wird Schülern und Auszubildenden aber dann vorgegaukelt, dass sie trotz unterschiedlicher Lernvoraussetzungen, Begabungen und Kompetenzen irgendwie zu Allem und Jedem befähigt sind. Dabei ist es doch die eigentliche Aufgabe von Ausbildern und Lehrern, Stärken und Schwächen zu erkennen und ihre "Zöglinge" darauf hinzuweisen, was sie möglicherweise können und was sie vielleicht besser unterlassen sollten.

Frau Bethke ist überzeugt, dass man das auch noch demjenigen klar machen könnte und sollte, der sich dank des "offenen" und "durchlässigen" Bildungssystems an die Universität verirrt und dort einen Ausbildungsgang gewählt hat, für den er gänzlich ungeeignet ist. Was spricht dagegen, vorher entsprechende Hürden aufzubauen, den Bewerbern richtige Prüfungen und Leistungstests abzuverlangen, um solche Fehlsteuerungen zu vermeiden und möglichst auszuschließen?

Dabei gehört es auch in der Bildung und in der Wissenschaft dazu, sich wie im Sport oder in der Kunst mit anderen messen und vergleichen zu können. Nicht jeder muss bekanntlich das Abitur machen, sich durch ein Studium schleppen und sich dann von Projekt zu Projekt hangeln. Längst klagen Handwerk und Betriebe über mangelnden oder schlecht ausgebildeten Nachwuchs, sodass sich die Bundesregierung nach Jahrzehnten des Nichtstuns und dem Werben für ein Hochschulstudium jetzt bemüßigt fühlt (siehe unten), Abiturienten und Hochschulabsolventen zu ermuntern, eine Ausbildung zu machen.

Notlösungen

Das andere, was immer gern zur Behebung des Bildungselends ins Feld geführt wird, ist die Rolle des Lehrpersonals. Christine Eichel hat darüber gerade ein über fünfhundert Seiten starkes Essay verfasst ("Deutschland deine Lehrer. Warum sich die Zukunft unserer Kinder im Klassenzimmer entscheidet", Blessing Verlag 2014) und wieder einmal für eine Neudefinition und Aufwertung des Lehrberufs geworben und aufgefordert.

Statt über veraltete Lehrpläne, obsolete pädagogische Konzepte und überforderte Lehrkräfte zu lamentieren und ständig kleinere Klassen, neue Lehrinhalte, offener Unterricht, die Abschaffung von Zensuren anzumahnen, sollte man laut Eichel zuallererst das pädagogische Personal in den Blick nehmen und es besser auf ihre künftigen Aufgaben vorbereiten.

Bei der Veränderung der schulischen Rahmenbedingungen habe man ihrer Meinung nach die "Selbstwahrnehmung des Lehrpersonals" völlig aus dem Auge verloren. Man habe vergessen die Lehrkräfte auf diesem Weg mitzunehmen und sie für das Neue zu begeistern. Dabei wisse man doch längst, dass die Motivation von Schülern weit mehr von der Persönlichkeit und dem Engagement des Lehrers abhänge als von Schultypen, Lernkonzepten und sozialen Umwelten. Der ganze Reformeifer, den die Bildungsreformer in den letzten Jahren entwickelt hätten, habe dazu geführt, dass ein Großteil der Betroffenen die Neuerungen einfach über sich ergehen lassen und wie einst der Igel nur darauf warteten, dass der Hase wieder vorbeikäme.