Todesstrafe und Fehlurteile

USA: Wissenschaftler schätzen den Anteil der unschuldig zum Tode Verurteilten auf 4 Prozent, während ein Richter des Obersten Gerichts von einer Erfolgsquote von 99,9 % bei Verurteilungen ausgeht

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In den Veröffentlichungen der US-Akademie der Wissenschaften (PNAS) findet sich aktuell eine Studie, die mit einigem theoretischem Aufwand zu einem Ergebnis kommt, das ein ägyptisches Gericht Pi mal Daumen praktiziert: Unschuldig wegen Mordes Angeklagte werden in der Mehrheit weder hingerichtet noch entlastet, sondern sie sitzen lebenslänglich im Gefängnis und werden vergessen.

Die Fragestellung, die sich das US-Wissenschaftsteam um den ehemaligen Strafverteidiger Samuel R. Gross gestellt hat, ist anspruchsvoll: Man wollte die Quote von Fehlurteilen bei Angeklagten in den USA, die eines Schwerverbrechens beschuldigt wurden, ermitteln.

Diese Quote sei nicht nur "unknown but unknowable" - also nicht nur unbekannt, sondern auch unmöglich zu ermitteln, wird die Fachwelt am Anfang der Studie zitiert. Für die Forscher war das eine Herausforderung, ebenso wie sie wohl die Aussage von Antonin Scalia, Richter am Obersten Gerichtshof der Vereinigten, provoziert haben muss. Scalia hatte 2007 in einer Entscheidung des Supreme Courts statuiert, dass amerikanische Verurteilungen eine Fehlerrate von bloß 0,027 aufweisen. Mithin eine Erfolgsrate von 99,973 Prozent. Die Aussage wird in der Studie erwähnt, mit dem für eine wissenschaftliche Arbeit bemerkenswerten lakonischen Kommentar:

In fact, the claim is silly.

Das Wissenschaftsteam um den früheren Strafverteidiger und jetztigen Rechts-Professor mit Spezialgebiet "Fehlurteile" kam auf eine andere Quote, deren Dimension erst in diesem Vergleich deutlich wird, nämlich eine Fehlurteilquote von 4,1 Prozent und zwar bei Zum-Tod-Verurteilten. Das sei eine konservative Berechnung, so die Studienautoren. Die Quote sei tatsächlich schwer zu ermitteln.

Fehlurteile werden hauptsächlich nur bei Todesurteilen bekannt

Um überhaupt einen Wert zu ermitteln, der einige wissenschaftlicher Validität beanspruchen darf, haben sie sich auf Fälle konzentriert, wo die Chance, dass ein Fehlurteil überhaupt als solches erkannt wird, am größten ist. Und das sind Todesurteile.

Bei geringfügigeren Verbrechen werde die Sache in den USA häufig vor der Verhandlung geklärt, in Absprache mit dem Richter. Voraussetzung ist dafür das Schuldbekenntnis des Angeklagten, ob dies nun tatsächlich zutrifft oder nicht. Auch bei Verhandlungen, wo es um lebenslängliche Haftstrafen geht, werde nicht dieselbe Sorgfalt, Achtsamkeit und Konzentration aufgewendet wie bei Verhandlungen, wo es um ein Todesurteil gehe, so die Grundannahme der Studienautoren.

Ein hoher Anteil der Fehlurteile, die in den Vereinigten Staaten ans Licht kommen und zur Entlastung der Angeklagten führen, konzentriert sich auf die kleine Minderheit von Fällen, in denen die Angeklagten zum Tod verurteilt wurden.

Todesurteile machen weniger als 1 Prozent der Gefängnisstrafen aus, aber zugleich haben sie einen Anteil von 12 Prozent der bekannt gewordenen Entlastungen, also Rücknahmen des Urteils, weil der Angeklagte sich als unschuldig erwiesen hat, im Zeitraum von 1989 bis 2012. Das ergebe ein Missverhältnis von 130 zu 1.

Die Grundlage für die Studie stellten 7.482 Daten von Personen, die im Zeitraum zwischen Januar 1974 bis Dezember 2004 in den Vereinigten Staaten zum Tod verurteilt wurden. 12,6 Prozent der Verurteilten wurden hingerichtet, 1,6 Prozent wurden entlastet. 4 Prozent starben in der Todeszelle ("Deathrow"); die große Mehrheit - 46,1 Prozent blieb in der Todeszelle und 35,8 Prozent konnten sie verlassen, weil ihr Urteil umgewandelt wurde.

Wenig Chancen bei den unschuldig lebenslänglich Inhaftierten

Laut Studie kann mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass einige der - seit 1977 - 1.320 hingerichteten Menschen unschuldig waren. Nachweisen können sie das ebenso wenig wie diejenigen, die eine solche Ausssage allein mit bloßem Menschenverstand tätigen, aber sie haben eine statistische Grundlage für ihre Ableitung.

Sie bearbeiteten die oben genannten Daten mit Verfahren der Ereigniszeitanalyse, des Kaplan-Meier-Schätzers plus Sensitivitätsanalyse und kamen zum oben genannten Ergebnis der konservativen Schätzung einer 4,1 prozentigen Rate von Fehlurteilen.

Aus ihren Annahmen folgern sie weiter, dass die meisten der unschuldig zum Tod Verurteilten nicht entlastet worden sind. In einer Vielzahl der Fälle sei eine Hoffnung auf Entlastung vergeblich. Weil Personen, deren Todesstrafe in "lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt wird, eine gegen Null gehende Chance darauf haben, dass ihr Fall noch einmal zur Entlastung des Verurteilten führt.