In einer anderen Welt

Die Tagesschau als Spiegel einer kollektiven Bewusstseinsverwirrung

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Die immer schärfer zutage tretenden Widersprüche der aktuellen Politik machen es den Präsentatoren der Abendnachrichten von Woche zu Woche schwerer, noch ein schlüssiges und identitätsstiftendes Bild zu vermitteln. Umwertungen und Begriffsverwirrungen häufen sich, wie beispielhaft eine Analyse der Tagesschau vom 2. Mai zeigt.

Die 20-Uhr-Ausgabe der ARD-Nachrichten beginnt mit einem Bericht zur militärischen Offensive Kiews gegen die Stadt Slawjansk:

In Slawjansk haben Regierungstruppen heute Morgen den Ring um die Rebellenhochburg enger gezogen. (…) Das russische Fernsehen zeigte, wie Zivilisten in Slawjansk beim Bau von Barrikaden helfen, auf Seiten der Separatisten.

Gezeigt wird eine Frau, offenbar Bürgerin der Stadt, die einem Reporter sagt: "Wir sind völlig entsetzt, dass die Armee unseres Landes gegen das eigene Volk vorgeht." Darauf folgt ein Ausschnitt aus einer Ansprache von Übergangspräsident Alexander Turtschinow, in der dieser mitteilt: "Die Terroristen verschanzen sich in bewohnten Gebieten."

Somit liegen zwei sich komplett widersprechende Deutungen vor. Auf der einen Seite ein brutaler Armeeeinsatz gegen die eigene Bevölkerung, auf der anderen ein für die Sicherheit notwendiger Antiterrorkampf. Die Bilder der zahlreichen Zivilisten, die den Kiewer Militärs auf den Straßen entgegenstehen, konterkarieren dabei die zweite Deutung. Zugeschaltet wird die Korrespondentin Golineh Atai aus Donezk. Sie berichtet:

Fest steht, dass die Einwohner, mit denen wir gesprochen haben, sehr zweigeteilt sind über diese Operation, die Kiew lanciert hat. Die einen sagen, das sei überfällig. Die anderen - und das sind die, die vor allen Dingen unter dem Einfluss der russischen Medien stehen - sagen, dass sie nicht verstehen würden, warum Kiew das eigene Militär gegen die eigene Bevölkerung einsetzt.

Von letzterer Deutung distanziert man sich also durch den Einschub, sie entstamme russischer Propaganda. Die unmittelbar zuvor ausgestrahlten Bilder von Zivilisten, die Seite an Seite mit den Aufständischen Barrikaden bauen, fließen in die Bewertung der Korrespondentin nicht ein - oder gelten ihr ebenfalls als Propaganda. Golineh Atai schließt ihren Bericht mit den Worten: "Zur Stunde wissen wir nicht, ob diese Antiterror-Operation weitergeht oder ob es hier eine Feuerpause gibt."

Es fällt auf, dass die Journalistin den Begriff "Antiterror-Operation" dabei ohne weitere Distanzierung oder Einschränkung verwendet und somit in diesem Punkt die Position Kiews übernimmt, was den Zuschauer irritiert zurücklässt - so er sich denn fragt, ob es nicht offensichtlich sei, dass es sich beim Begriff der Terrorbekämpfung in diesem Zusammenhang um einen Euphemismus handelt.

Die Tagesschau kommt bereits nahtlos zum nächsten Punkt, bei dem nun nicht die Wortwahl eines Journalisten irritiert, sondern die der Politiker selbst:

Der Ukraine-Konflikt bestimmt auch den USA-Besuch von Bundeskanzlerin Merkel. Gemeinsam mit Präsident Obama drängte sie Russland, endlich zur Entspannung der Lage beizutragen. Sollte dies nicht geschehen, dann habe der Westen keine andere Wahl, als weitere Sanktionen zu verhängen. Deutschland sei fest entschlossen, diesen Weg gemeinsam mit den USA zu gehen, so Merkel.

Der Zuschauer bleibt ratlos zurück - sofern er versucht, eine Kausalität zu den Ereignissen in Slawjansk herzustellen. Kiewer Truppen greifen die Stadt an - und Russland soll "endlich zur Entspannung der Lage" beitragen? Der Appell scheint eine andere Welt zu betreffen.

Auf dem Bildschirm erscheint als nächstes die Korrespondentin Tina Hassel in Washington, die noch einmal Merkels Sicht referiert:

Gegenüber dieser Aggression Putins möchte, muss der Westen gemeinsam geschlossen auftreten. Alles andere würde nur Russland in die Hände spielen.

Da es sich bei "dieser Aggression" wohl nicht um den Angriff auf Slawjansk handeln kann, meint Merkel offenbar eine russische Aggression im Allgemeinen. Unklar bleibt, welche politische Handlung von Russland dabei konkret erwartet wird. Die Rhetorik scheint wiederum losgelöst, wie abgekoppelt von greifbaren Realitäten. Die Korrespondentin aus Washington schließt mit den Worten:

Dass beim strittigen Thema NSA hier kein Entgegenkommen Obamas zu erwarten war und auch auf lange Zeit nicht zu erwarten ist, das war bekannt (…) aber die Erwartungen hatte Berlin ja im Vorfeld gedämpft und wer keine überzogenen Erwartungen hat, kann auch nicht enttäuscht werden.

Die Tagesschau schneidet dazu nun nach Berlin. Es fällt auf, wie an diesem Abend ein Thema direkt zum nächsten führt, als Teil eines großen zusammenhängenden Knäuels, bei dem nur nicht klar ist, ob die Nachrichten es eher dechiffrieren oder neu verschlüsseln:

Beinahe zeitgleich zum Treffen im Washington bekam heute der Untersuchungsausschuss Post von der Bundesregierung. Eine Vernehmung Snowdens durch den Ausschuss in Deutschland wird darin rundweg abgelehnt, denn das hätte negative Auswirkungen auf das deutsch-amerikanische Verhältnis, gerade bei der Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden.

Es ist also offenkundig: Snowden gefährdet die deutsch-amerikanische Freundschaft, Putin greift in der Ostukraine an und Zivilisten sind Terroristen …

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