Reis oder Weizen?

Reisterrassenanbau in der chinesischen Provinz Yunnan. Bild: Jialiang Gao/CC-BY-SA-3.0

Eine neue Studie zeigt, wie die Ernährung Kulturen prägt - und die Weltgeschichte beeinflusst hat

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Für Joseph Henrich ist es eine der "großen Fragen der Geschichte": Warum startete die Industrielle Revolution ausgerechnet in England? Es hätte aussichtsreichere Kandidaten gegeben, um diese gigantische Wachstumsmaschine zu starten, schreibt der Psychologe von der University of British Columbia in der aktuellen Ausgabe von Science . China zum Beispiel sei am Ende des ersten Millenniums technologisch weit fortgeschritten gewesen. Das Land habe über komplexe Institutionen und eine gut ausgebildete Bevölkerung verfügt. Wenn der Kapitalismus seinen Siegeszug um die Welt trotzdem von Nordeuropa aus antrat, könnte das mit den dortigen Ernährungsgewohnheiten zusammenhängen: Denn hier bildete Weizen das Hauptnahrungsmittel, während die Menschen in Asien überwiegend Reis aßen.

Bei diesem Erklärungsansatz stehen allerdings nicht die unterschiedlichen Nährwerte der Pflanzen im Mittelpunkt, sondern die Anbaumethoden. So ist der Nassreisanbau, der etwa 80 Prozent der weltweiten Reisproduktion ausmacht, sehr arbeitsintensiv, die komplexen Bewässerungssysteme erfordern intensive Kooperation der Bauern untereinander. Wer dagegen Weizen anbaut, braucht nur Regen und kommt mit deutlich weniger Arbeit aus, was ihn sehr viel unabhängiger von seinen Nachbarn macht. Schon Karl Marx hatte sich unter dem Titel asiatische Produktionsweise mit diesen Unterschieden beschäftigt.

Ein amerikanisch-chinesisches Forschungsteam hat diese "Reistheorie der Kultur" jetzt mit einer empirischen psychologischen Studie geprüft und stellt die Ergebnisse ebenfalls in "Science" vor. Der Weizenanbau, so die These des von Thomas Talhelm (University of Virginia) geleiteten Teams, habe im Westen eher den Individualismus, analytisches Denken und damit verbunden Innovation und Kreativität gefördert. Asiatische Gesellschaften seien dagegen stärker durch das Kollektiv und ganzheitliches Denken geprägt.

Dem Zusammenhang von Ernährung und Kultur sind die Forscher mit einer empirischen Untersuchung nachgegangen. 1162 Studenten aus sechs chinesischen Provinzen nahmen an psychologischen Tests teil, mit denen sowohl ihre Denkweise als auch das soziale Verhalten ermittelt wurden. Beim "triad task" etwa wurden die Testpersonen aufgefordert, aus einer Liste mit drei Objekten zwei zu wählen, die zusammengehören. Wer zum Beispiel bei Bus, Bahn und Schiene Bus und Bahn auswählt, ordnet die Dinge in Kategorien ein, geht also eher analytisch vor. Wer dagegen Bahn und Schiene miteinander paart, schaut auf funktionale Zusammenhänge, aufs Ganze. Tatsächlich neigten Teilnehmer aus Reisregionen bei diesen Aufgaben stärker zum ganzheitlichen Denken als solche aus Gegenden, in denen hauptsächlich Weizen angebaut wird.

Westlicher Individualismus - eine Folge der Anbaumethode?

Ähnlich fielen die Ergebnisse der Tests aus, mit denen der Grad des Individualismus bestimmt wurde. Aufgefordert, ihr soziales Beziehungsgeflecht grafisch aufzuzeichnen, wobei Personen durch Kreise dargestellt werden, zeichneten Teilnehmer aus Weizenregionen sich selbst im Schnitt 1,5 Millimeter größer als die anderen. Wer stärker durch die Reiskultur geprägt war, machte dagegen in der grafischen Darstellung keinen Größenunterschied zwischen sich und seinen Freunden. Der Individualismus von Chinesen aus Gegenden, die nicht vom Reis-, sondern vom Weizenanbau geprägt sind, bleibt damit allerdings immer noch deutlich hinter dem von Europäern zurück, die sich bei diesem Test durchschnittlich 3,5 Millimeter größer darstellen. Bei US-Amerikanern sind es sogar 6 Millimeter.

Neben diesen Testergebnissen sehen die Forscher die Reistheorie auch durch statistische Erhebungen gestützt. So fanden sie in Weizengebieten erhöhte Scheidungsraten sowie mehr Patenterteilungen. Der Anbau dieses Grundnahrungsmittels biete damit eine mögliche Erklärung dafür, warum "Ostasien viel weniger individualistisch ist, als es aufgrund seines Wohlstandes eigentlich 'sein sollte'", schreiben sie.

Eine offene Frage sei jedoch, wie lange die durch die Anbauweise geprägten Kulturen Bestand haben, nachdem die meisten Menschen nicht mehr in der Landwirtschaft beschäftigt sind. Untersuchungen in den USA hätten gezeigt, dass Gegenden, in denen sich einst schottische und irische Viehtreiber angesiedelt hätten, heute noch stärker als andere von Gewalt geprägt sind, obwohl die meisten Bewohner längst nicht mehr als Cowboys arbeiteten. Gesellschaftlicher Traditionen brauchen offenbar wie Nahrungsmittel Zeit, bis sie verdaut sind und ausgeschieden werden können.