Tragödie von Odessa: Verdächtiger Polizeichef macht sich aus dem Staub

Der Polizeichef hat nach Meinung von Augenzeugen Provokateure instruiert, die sich am 2. Mai auf Seiten der Regierungsgegner an einer Straßenschlacht in Odessa beteiligten. Bei der Straßenschlacht gab es nach Medienberichten vier Tote

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Am Donnerstag gab der ukrainische Innenminister Arsen Awakow bekannt, dass der stellvertretende Leiter der Polizei von Odessa, Dmitri Futschedschi, auf der Flucht sei. Man habe den Polizeichef zur Fahndung ausgeschrieben. Der Geflüchtete war von Augenzeugen und Bloggern verdächtigt worden, er habe während der Straßenschlacht in Odessa am 2. Mai den Einsatz von Provokateuren (prorussische Demonstranten mit roten Armbinden und maskierten Schützen) persönlich geleitet.

Auf einem Video sieht man, wie Futschedschi Demonstranten mit roten Armbändern instruiert, wie er sich mit einem Maskierten sehr ernsthaft unterhält und ruhig zuschauen, wie ein Maskierter auf Demonstranten schießt (Video 3:32 bis 3:49 ).

Innenminister Awakow widersprach Meldungen, nach denen Futschedschi auf "ein Ehrenwort" freigelassen wurde. Nach Medienberichten stand der Polizeichef unter Hausarrest. Von Seiten ukrainischer Sicherheitskreise hieß es, der Geflüchtete sei nach Transnistrien geflüchtet. Belege dafür gab es nicht. Das prorussische Transnistrien spaltete sich 1991 in einem Bürgerkrieg von Moldau ab und liegt nur 40 Kilometer von Odessa entfernt.

Mysteriöse "Diversions-" und "Finanzierungs-Gruppe"

Transnistrien war nicht das einzige Stichwort, mit dem die ukrainischen Sicherheitsbehörden ihre Behauptung, die Unruhen in Odessa seien von Russland gesteuert worden, zu untermauern versuchten. Am Mittwoch gab der Leiter des ukrainischen Gemeindienstes SBU, Walentin Naliwajtschenko, mehrere Verhaftungen in Odessa bekannt:

  • Festnahme von Mitgliedern eine "Diversionsgruppe", zu der auch Mitglieder der Partei "Russische Einheit" gehören. "Die ganze Bande ist verhaftet, auch der Leiter", erklärte der SBU-Chef. Die Namen der Festgenommenen wurden nicht genannt. Wichtig war wohl vor allem das Nennen der Partei "Russische Einheit". Deren Vorsitzender ist Sergej Aksjonow, amtierende Gouverneur der Krim.
  • Festnahme eines 26-jährigen Mannes aus Odessa. Angeblich hat der Festgenommene, dessen Name ebenfalls nicht genannt wurde, die Unruhen organisiert. Der Mann sei Leiter "einer radikalen Gruppe" und habe sich in einer gemieteten Wohnung versteckt gehalten.

Außerdem gab der SBU-Chef bekannt, dass man in Odessa eine Gruppe von vier Personen aufgedeckt habe, welche die Unruhen am 2. Mai finanziert hätten. An der Gruppe soll angeblich der unter Präsident Viktor Janukowitsch amtierende Vize-Ministerpräsident Sergej Arbusow beteiligt gewesen sein. Arbusow hat dies kategorisch bestritten und dem SBU-Chef mit einem Prozess gedroht.

Freilassung von 78 Häftlingen hat ein Nachspiel

Dass die Polizei von Odessa am 2. Mai mit Demonstranten zusammengearbeitet hat, meint übrigens auch der ukrainische Generalstaatsanwalt Oleg Machnitski. In einem Interview für den Fernsehkanal TV 5 erklärte der Generalstaatsanwalt, die Polizisten seien bei den Unruhen in Odessa "nicht nur untätig geblieben, sondern sie haben daran teilgenommen". Machnitski, welcher der rechtsradikalen Partei Swoboda angehört, erklärte, es habe Absprachen "zwischen den Banditen und der Polizei" gegeben. Mit den "Banditen" sind die prorussischen Demonstranten gemeint.

Die Polizei von Odessa ist offenbar für Druck anfällig, egal von welcher Seite er kommt. Am Sonntag wurden 78 Untersuchungshäftlinge freigelassen. 2.000 Demonstranten hatten das Untersuchungsgefängnis belagert und schließlich Erfolg. Die Häftlinge - offenbar vorwiegend prorussische Aktivisten - waren nach dem Brand im Gewerkschaftshaus festgenommen worden.

Doch die Freilassung hatte ein Nachspiel. Am Donnerstag gab der ukrainischen Innenminister Arsen Awakow die Verhaftung von zwei hohen Polizei-Offizieren bekannt. Die beiden Polizisten seien nach Kiew gebracht worden, teilte Awakow mit. Bei den Verhafteten handelte es sich um den Chef der Polizei von Odessa, Andrej Netrebcki, und den Leiter des Untersuchungsgefängnisses von Odessa. Nach Medienberichten hängt die Verhaftung der beiden Polizisten mit der Freilassung der prorussischen Untersuchungshäftlinge zusammen.

Gouverneur hält nichts von "russischer Spur"

Der nach den Unruhen in Odessa neu ernannte Gebietsverwalter von Odessa, Igor Paliz, erklärte am Dienstag, man solle die Verantwortlichen für die Tragödie von Odessa "nicht in Russland oder Transnistrien suchen." Die Verantwortlichen befänden sich im Land. Paliz versprach, die Untersuchung der Vorfälle würde maximal transparent durchgeführt. "Solche Dinge dürfen wir nicht wieder zulassen."

Der Vorgänger von Paliz, Wladimir Nemirowski, behauptet, an der Organisation der Unruhen sei auch eine Person aus dem engeren Kreis der Präsidentschaftskandidatin Julia Timoschenko beteiligt gewesen. Es handele sich dabei um Aleksandr Dubowoi, der für die Partei Vaterland in der Rada sitzt. Dubowoi habe angeblich führende Polizisten von Odessa bestochen. Belege nannte der ehemalige Gebiets-Chef nicht. Eine Stellungnahme des Beschuldigten zu den Vorwürfen ist nicht bekannt.

Der russische Außenminister Sergej Lawrow erklärte am Mittwoch, dass das, was im Gewerkschaftshaus von Odessa passiert sei, "reiner Faschismus" gewesen sei. Man werde es nicht zulassen, dass die Fakten unter den Tisch gekehrt werden, wie es die die Machthabenden in Kiew versuchten, indem sie die Untersuchungen unter "Ausschluss der Öffentlichkeit" führten. Der ukrainische Innenminister Arsen Awakow erklärte, man habe Experten aus dem Ausland zu den Untersuchungen hinzugezogen. Um welche Experten es sich handelte, sagte der Innenminister nicht.

Wurde ein Gas eingesetzt?

Während der Unruhen am 2. Mai starben nach offiziellen Angaben mindestens 46 Menschen. 200 Menschen wurden verletzt. Allein 38 Menschen sollen bei dem Brand im Gewerkschaftshaus gestorben sein. Bürger von Odessa haben jetzt auf einer Website auf Grundlage von Presserecherchen die Namen von 37 im Gewerkschaftshaus gefundenen Toten veröffentlicht. Die Namen der Toten wurden angeblich vom Geheimdienst bestätigt, die Todesursache jedoch nicht.

Nach den Recherchen der Bürgerinitiative wurden von 37 gefundenen Toten fünf erschossen. Acht starben, als sie sich aus Angst vor dem Feuer und vor Verfolgung aus großer Höhe mit einem Sprung in die Tiefe zu retten versuchten. Die übrigen 24 Personen starben an Brandverletzungen und Vergiftungen durch Rauchgas. Das Alter der Toten liegt zwischen 18 und 62 Jahren. Unter den Opfern sind sechs Frauen.

Ob die Menschen jedoch wirklich an Rauchgas starben, war in den letzten Tagen umstritten. Es gab verschiedene Hinweise auf den Einsatz eines Gases. Der Abgeordnete Wladimir Arjow erklärte per Facebook, die Menschen im Gewerkschaftshaus seien nicht an einer Rauchvergiftung, sondern an Chlor gestorben.

Der Abgeordnete bezieht sich auf einen Bericht des Portals UAINFO, in dem versucht wird, die Situation in dem mehrstöckigen Gebäude zu rekonstruieren. Ein "Separatist" soll erzählt haben, dass unter der Tür grünlich-weißer Rauch durchkroch. Der Rauch habe die Luft aus den Lungen gesaugt. Die Beschreibung des "Separatisten" passe auf Chlor. Chlor-Gas sei schwer und "krieche" auf der Erde. Möglicherweise haben jemand in einer oberen Etage einen entsprechenden Gasbehälter aufgedreht. Das hätte zur Folge, dass alle Menschen in den tieferen Etagen erstickten. Zu dem Zeitpunkt, als das Gas kam, hätten sich nur noch "Separatisten" in dem Gebäude befunden, schreibt das Nachrichtenportal.

Auch der ukrainische Geheimdienst hat angeblich einen Hinweis, der auf den Einsatz eines gefährlichen chemischen Stoffes hindeutet. Das schrieb - unter Berufung auf den Geheimdienstchef Naliwajtschenko - der Abgeordnete Wladimir Kurennoi am Dienstag via Facebook. Nicht weit vom Gewerkschaftshaus, in einem Gebäude, in dem früher die Gebietsverwaltung der KPdSU residierte, habe man einen Behälter mit einem "gefährlichen Stoff" gefunden. Der Stoff werde noch untersucht. Dem Geheimdienst sei der Name der Person bekannt, welche die Substanz nach Odessa gebracht und im Gewerkschaftshaus eingesetzt habe, so der Abgeordnete. Näheres wurde nicht bekannt.

Zahl der Toten liegt möglicherweise weit höher

Nach Meinung des Mitglieds des Gebietsrates von Odessa Vadim Sawenko werde die wahre Zahl der Toten verschwiegen. Tatsächlich seien bei dem Brand im Gewerkschaftshaus 116 Menschen gestorben. Augenzeugen hatten berichtet, dass viele der gefundenen Leichen Schussverletzungen hatten und in Blutlachen lagen.

Die Spekulationen über eine viel höhere Zahl von Opfern im Gewerkschaftshaus, hatten durch verschiedene Berichte Auftrieb erhalten:

  • Am Montag hatten wurde von zwanzig nicht identifizierten Toten im Leichenhaus von Odessa berichtet.
  • Das Internatportal Otkat berichtete, dass nach dem 2. Mai 45 Bürger von Odessa vermisst würden. Der geschäftsführende Bürgermeister von Odessa Oleg Bryndak hatte gemutmaßt, dass ein Teil der Vermissten verhaftet sei und sich nicht mit den Angehörigen in Kontakt setzen könne. Ein anderer Teil der Vermissten halte sich wohlmöglich versteckt.

Dass die Mitglieder des Rechten Sektors während und nach dem Brand im Gewerkschaftshaus auf Menschenjagd gingen und sich dabei von Kamera-Leuten abfilmen ließen, deutet darauf hin, dass es sich um eine Aktion zur Einschüchterung der Bevölkerung handelt.

Die traditionellen Straßenumzüge aus Anlass des Sieges im Zweiten Weltkrieg über Hitler-Deutschland wurden in Odessa, Lviv und anderen Städten der Ukraine aus Angst vor gewaltsamen Gegenaktionen abgesagt.