Die Tiefe des Raumes

Abb. 1: Abmessungen eines regelkonformen Fußballfeldes. Bild: Chandler. Public Domain

Hört man die Redewendung "die Tiefe des Raumes" denkt man unwillkürlich an Astronomie und die Entstehung des Weltalls. In Deutschland bezieht sich der Ausdruck aber auf das Europameisterschafts-Epos von 1972 auf dem "heiligen Rasen" von Wembley

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Im Jahr 2012 ist Peter Unfried in der taz der Legende von der "Tiefe des Raumes" nachgegangen. Der Satz erschien eineinhalb Jahre nach dem legendären Viertelfinalspiel der Europa-Meisterschaft 1972 in Wembley im Feuilleton der FAZ. Der Autor des Beitrags schrieb: "Der aus der Tiefe des Raumes plötzlich vorstoßende Netzer hatte 'thrill'". Und so wurden die drei Worte "Tiefe des Raumes" zum Inbegriff von Strategie und Positionsspiel im Fußball.1 Das Länderspiel gegen England damals hat enorm zum Mythos von Günter Theodor Netzer beigetragen. Wie könnte seine Autobiographie dann anders heißen als "Aus der Tiefe des Raumes"?2

Vor Tiefe kommen aber Länge und Breite. Hier überrascht es zu wissen, dass viele geflügelte Worte des Fußballspiels auf ein Missverständnis bei der Wahl der Maßeinheiten beruhen. Der Elfmeterpunkt ist eher ein Zwölferpunkt, während der Sechzehnmeterraum eher ein Achtzehnerraum sein sollte, da für die Festlegung der Spielregeln in England Yards verwendet wurden - und zwar mit runden Zahlen. Die Freistoßmauer z.B. muss 10 Yards vom Ball entfernt aufgestellt werden, was zu den merkwürdigen 9,15 Metern Abstand führt. Die Breite des Tors selbst beträgt 8 Yard, d.h. 7,32 Meter. Abb. 1 zeigt die Abmessungen eines Fußballfeldes in Yards und ihre jeweiligen Umwandlungen in metrische Einheiten.

Woher also diese Feldmaße? Am Anfang der Entwicklung des Fußballspiels wurde mit unterschiedlich großen Feldern und mit einer variablen Anzahl von Spielern gespielt. Einige Fußballtheoretiker haben deswegen versucht zu berechnen, ob nicht womöglich elf Spieler pro Team gerade mit diesen Feldgrößen am besten zurechtkommen. Ihre Geschwindigkeit würde es den elf Spielern erlauben, das Feld optimal abzudecken, ohne dass der Gegner übermäßig viel Zeit für die Ballbehandlung bekommt, aber auch nicht so wenig, dass die Spieler dann Trauben bilden.

Abb. 2 ist "The Science of Soccer" von John Wesson entnommen worden. Wesson hat berechnet, wie viel Zeit ein Spieler in einem regelkonformen Fußballfeld hat, um den Ball zu bespielen (Annehmen, Schauen, Abgeben), wenn die Anzahl der Spieler pro Team zwischen 5 und 20 variiert. Bei elf Spielern ergeben sich etwa drei Sekunden Zeit für den nächsten Spielzug.

Abb. 2: Zeit für die Annahme und Behandlung des Balls (vertikale Achse) in Bezug auf die Anzahl der Spieler pro Team Bild: Wesson, The Science of Soccer.

Viel einfacher, als solche theoretischen Berechnungen anzustellen, ist es, die heutigen Statistiken zur Hand zu nehmen und nachzulesen, wie viele Kilometer ein Fußballspieler in einem Spiel im Durchschnitt läuft. Für die Bundesliga besagt die Statistik, dass die Höchstgeschwindigkeit der zwanzig schnellsten Fußballprofis zwischen 34,6 bis 35,5 km/h liegt. Die Laufleistung der zwanzig lauffreudigsten Spieler beträgt zwischen 11 und 12 Kilometer pro Spiel (bei mehr als 16 gespielten Spielen in einer Saisonhälfte). Manche Spieler können aber Spitzenleistungen von 13 Kilometern in 90 Minuten erreichen. Bei Bayern München laufen die elf Spieler im Durchschnitt 10,5 Kilometer pro Spiel.3 Durch die Geschwindigkeitsspitzen entspricht ein Durchschnittsspiel dem Kalorienverbrauch eines Joggers, der 18 Kilometer in 90 Minuten abdeckt. Die Dimensionen des heutigen Fußballfeldes verlangen also viel von den Fußballprofis.

Physiologen haben gemessen, wie nah an das Leistungsmaximum Fußballspieler kommen und was sie alles durchschnittlich in einem Spiel treiben. So wurde ermittelt4:

  • Fußballer müssen alle 90 Sekunden, für je 2 bis 4 Sekunden, sprinten;
  • Sprints können bis zu 10% der abgedeckten Distanz darstellen;
  • Rennen müssen sie alle 70 Sekunden;
  • Fünfzigmal kommen Sie in Kontakt mit dem Ball; daraus ergeben sich 30 Pässe;
  • Das Herz arbeitet bis auf 80-90% des Maximums, bevor das in den Muskeln produzierte Laktat nicht mehr mit derselben Rate abgebaut werden kann (Laktatschwelle).

Vor allem dieser Faktor, die Laktatschwelle, setzt eine Grenze der Leistung, die Fußballer über eine längere Zeit vollbringen können.

Es wäre interessant zu wissen, wie sich die mittlere Geschwindigkeit des Fußballspiels im Laufe der letzten 20 Jahre geändert hat. Diese Fragestellung ist Jarryd Wallace in seiner Bachelorarbeit an der Universität von Südaustralien nachgegangen.5 Er hat durch die Analyse von Videos von Spielen der Fußball-Weltmeisterschaften zwischen 1966 und 2010 ermittelt, dass die mittlere Ballgeschwindigkeit von 8 m/s bis auf 9,2 m/s gestiegen ist, eine Geschwindigkeitszunahme des Spiels um 15% (Abb.3). Das ist aber nur die mittlere Ballgeschwindigkeit, die Zunahme bei den Sprints ist noch höher. Deswegen wirken alte Fußballspiele im Fernsehen, als ob sie in Zeitlupe gezeigt würden.

Fußballspieler sind also schneller und sogar körperlich größer geworden. Das bedeutet, dass, relativ zu den Spielern, das Feld kleiner geworden ist. Dies kann durch die "Dichte" der Spieler auf dem Feld gemessen werden. Abb. 4 zeigt, dass die Anzahl der Spieler in einem Kreis mit einem Radius von 5 Metern um den Ball zwischen 1990 und 2010 zunahm. Obwohl viel mehr Pässe als früher abgegeben werden und schneller gespielt wird, kommen mehr Spieler nahe an den Ball. Das erklärt auch zum Teil die ständige Reduktion der Anzahl der Tore pro Spiel bei einer WM und die immer größere Relevanz der Verteidigung. Abb. 5 zeigt die erwähnte stark gestiegene Anzahl der Pässe pro Minute: von 11,3 Pässen noch im Jahr 1966 bis auf durchschnittlich 15,3 im Jahr 2010!

Abb. 3: Mittlere Ballgeschwindigkeit (erste und zweite Hälfte) in m/s und Regressionsgerade für die WMs 1966 bis 2010. Aus Wallace, "Evolution of World Cup Soccer".
Abb. 4: Mittlere "Dichte" der Spieler um den Ball (Anzahl der Spieler in einem Kreis mit 5 Meter Radius um den Ball) für die WMs 1990 bis 2010. Aus Wallace, "Evolution of World Cup Soccer".
Abb. 5: Anzahl der Pässe pro Minute für die WMs von 1966 bis 2010. Aus Wallace, "Evolution of World Cup Soccer".

Die Tiefe des Rasens

Keine andere Diskussion erhitzt die Gemüter der Fußballspieler mehr als der Drang der FIFA, neue Felder mit Kunstrasen auszustatten und sogar Weltmeisterschaften auf Kunstrasen auszutragen. Dass die FIFA für jede Kunstrasenlizenz Gebühren von den Herstellern kassiert, hilft nicht gerade, an die Unparteilichkeit des Fußballverbandes zu glauben.

Die Holländer sind nicht nur führend bei der Zucht von Tulpen, sondern haben auch über viele Jahre die besten Sportrasen in ganz Europa geliefert. Rasenaufzucht wird dort großgeschrieben und verlangt viel technisches Know-how. Auch in Deutschland arbeiten spezialisierte Landwirte an der Herstellung des besten Sportrasens. So ein Profirasen wird über mehrere Schichten Erde aufgelegt: Erde, die auf sandigem Boden und Kies ruht und noch dazu mit Drainage und Heizung ausgestattet wird.

Der Widerspruch zwischen Menschen, die nicht nass werden wollen, und Rasen, der für optimales Wachstum Sonne braucht, hat zu geschlossenen Stadien geführt, bei denen der Rasen komplett ausgefahren werden kann, wie bei der Arena auf Schalke (Abb.6) oder dem Stadion von Phoenix. Rasenexperten geraten über solche technische Meisterleistungen, die das einzige Ziel verfolgen, den perfekten Spielboden zur Verfügung zu stellen, ins Schwärmen.

Abb. 6: Die ausfahrbare Rasenwanne der Arena auf Schalke. Bild: Wo st 01. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Dies sei aber alles zu teuer, sagt die FIFA, so dass Blatter bereits seit einigen Jahren Befürworter von Kunstrasen geworden ist.

Die Diskussion, die seit Jahren anhält, hat zu bizarren Vorfällen geführt. Die deutsche Frauen-Nationalmannschaft hat beispielsweise gegen den Kunstrasen bei der nächsten WM in Kanada öffentlich protestiert und erst den Rückzug angetreten, als die Fußballfunktionäre aktiv wurden. Auch David Beckham hat sich negativ über den Kunstrasen geäußert, bis bemerkt wurde, dass manche Beckham-Akademien in den USA Kunstrasen einsetzen. Ein großer Erfolg für Blatter war aber, in Grönland ein Fußballfeld mit Kunstrasen einzuweihen, was nur als zusätzlicher Beweis für die globale Erwärmung gewertet werden kann.

Etwas unbemerkt von der Öffentlichkeit sind hybride Rasen bereits bei internationalen Turnieren eingesetzt worden. So in Südafrika bei der WM 2010 und diesmal in Brasilien, wo die ersten hybriden Rasen auf ihren WM-Einsatz warten.

In einem Hybridrasen werden künstliche Fasern, mit einem gewissen Abstand zueinander, im Boden eingedruckt. Die Fasern dienen als Stützmatrix für die Graswurzel, so dass an der Oberfläche natürliches Gras die Optik dominiert, während die künstlichen Fasern dem ganzen Gemisch Festigkeit verleihen. Abb. 7 zeigt den Querschnitt eines Hybridrasensystems mit einer Drainage.

Abb. 7: Querschnitt eines Hybridrasensystems Bild: hybridrasen.com

Temperatur und Verletzungen

In den USA hat die Benutzung von Kunstrasen beim Sport eine deutlich längere Geschichte, und dort wird die Diskussion am kontroversesten geführt. Zum einen scheint es unbestritten, dass Kunstrasen zu einer höheren Temperatur auf dem Spielfeld führt. Reine Kunstrasen benutzen als Abfederung eine Schicht aus Gummikrümeln direkt unter den künstlichen Grashalmen, die das Wasser durchsickern lässt, jedoch auch als eine Art Dämmung wirkt. Die Hitze staut sich über dem Feld wegen der Gummischicht.

An der Universität Missouri, z.B., wurde bei einem Kunstrasen eine Oberflächentemperatur von fast 59°C auf Kopfhöhe gemessen, bei einer Lufttemperatur von 37°C. Am selben Tag betrug die Oberflächentemperatur bei natürlichem Rasen dagegen nur 41°C.6 In Utah wurden 2002 Schwankungen bei einem Kunstrasen zwischen 47 und 69°C an sehr warmen Tagen gemessen! Die erstaunliche Schlussfolgerung war, dass Kunstrasen u.U. wärmer als Asphalt werden kann!

Auch die Art der Verletzungen, die sich Spieler auf Kunstrasen zuziehen können, ist heftig debattiert worden. Es gibt widersprüchliche Befunde, d.h. es gibt sowohl Studien, die zeigen, dass Verletzungen wie Kreuzbandrisse beim Kunstrasen zunehmen, als auch Studien, in denen das Gegenteil nachgewiesen wurde. Ohne genau zu wissen, wer der Auftraggeber jeder Studie ist, kann man keine Schlüsse ziehen.

Die National Football League in den USA, die über die Gesundheit der Football-Spieler wacht, hat 2010 berichtet, dass nach einer Studie der Saisons von 2002 bis 2008, die Anzahl der Kreuzbandrisse auf Kunstrasen um 88% höher lag als bei Naturrasen.7 Knöchelverletzungen lagen um 32% höher als bei Naturrasen.

Die künstliche Oberfläche des Kunstrasens kann außerdem Verbrennungen und Reizungen produzieren, die dann von Bakterien, die sich auf dem Boden ausbreiten, angegriffen werden können. Das Center for Disease Control in den USA hat schon Staphylokokken-Infektionen in Football-Spielern nachgewiesen, die vom Kunstrasen stammen.

Das ist keine gute Presse für den Kunstrasen und deswegen sind solche Oberflächen in Deutschland vom Fußballverband nicht für Stadien freigegeben worden, obwohl der DFB-Generalsekretär Helmut Sandrock verlautbaren lässt: "Der Einsatz reiner Kunstrasenfelder in der Bundesliga ist aktuell kein Thema, aber es wäre kurzsichtig, das für alle Zeit auszuschließen."8

Die Poetik des Grashalmes

Mir scheint, dass die Einführung von Kunstrasen aus vor allem ökonomischen Gründen, dem Fußballspiel die letzte Romantik nehmen wird. Deutsche pflegen ein inniges Verhältnis zum Rasen, wie ich jedes Wochenende beobachten kann. Es gibt ja sogar ein "GrashalmInstitut", ein nomadisches Projekt vom Künstler Thoma May, fest verankert im Internet, der sich mit dem "Phänomen Gras als Kulturträger" beschäftigt. Es gibt auch eine "Deutsche Rasengesellschaft e.V." in Bonn, deren Namen etwas merkwürdig klingt, bis man versteht, worum es eigentlich geht. Die Rasenkugel haben sie bereits erfunden:

Besonders geeignet ist diese "Relaxkugel" für Choleriker. Alle Benutzer finden beim Blick in die innenbegraste Rasenkugel die nötige Ruhe und die Gelegenheit in sich selbst hineinzuhorchen; denn die Umgebung wird einfach ausgeblendet. Natürliche Gräser aus biologischem Anbau beschränken die Verfügbarkeit von Rasenkugeln. Frühzeitige Bestellungen sind nötig, um die zeitgerechte Auslieferung des hochwertigen Frischproduktes sicherzustellen.

Jedes Fußballfeld könnte so eine Kugel brauchen. Die Mitglieder der Gesellschaft sind jedoch echte Rasenprofis und nichts tun sie lieber, als Rasensorten zu begutachten und ihre jeweiligen Vorzüge zu erörtern. Auch Online-Informationen helfen den Hobbygärtnern, wie z.B.: "Wie lange sollte der Rasen gemäht werden? ... Solange die Gräser wachsen!"

Dass aber die fachgerechte Haltung von Sportrasen eine echte Wissenschaft ist, zeigt eine Präsentation von Anthony Koski von der Colorado State University über "Rasen-Physiologie". Der Manager eines Sportrasens muss nämlich den ganzen Fotosynthese-Zyklus beherrschen und den Unterschied zwischen C3- und C4-Gräsern kennen, die je nach Temperatur ungleich hohe fotosynthetische Leistungen erbringen. In Fußballstadien ohne ausfahrbare Wanne (wie der von Schalke) kann der Experte die schattigen Stellen mit sehr lichtstarken Lampen beleuchten, um das Graswachstum anzuregen. Der Stickstoffzyklus wird auch von Koski im exquisiten Detail erläutert, so dass man lernt, wie genau das Wurzelwachstum durch Stickstoff angeregt wird. Sogar über Hormone muss der Sportmanager Bescheid wissen und nicht zuletzt auch über die Aktivierungssequenz der Gene im Gras.

All diese Poetik wird verloren gehen, wenn einmal alle Fußballfelder der Welt durch die von der FIFA zugelassenen Kunstrasen abgedeckt worden sind. Dann braucht der Sportmanager nur noch im Katalog einer Kunstrasen AG zu blättern. Der Unterschied zwischen den Grassorten Weidelgras, Wiesenrispe und Rotschwingel wird nur noch Geschichte sein. Das wäre keine Oberfläche für einen Netzer, dem Fußballdichter, der aus der Tiefe kam.