Die Liebe in den Zeiten des Internets

Wie sich internetinitiierte Bekanntschaften auf die Kommunikation der Liebe auswirken

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

"Die Liebe in den Zeiten der Cholera" (Gabriel García Márquez)1 stellt dieselbe paradigmatisch dar. Nahezu ein Leben lang wartet ein Liebender auf seine Geliebte, beobachtet sie, sucht ihre Nähe von Jugend an, nimmt selbst die langjährige eheliche Beziehung der Geliebten zu einem anderen liebend hin. Erst im hohen Alter, fast am Ende ihrer Leben, gelingt es dem Liebenden, aller Widerstände zum Trotz, mit seiner Geliebten tatsächlich zusammen zu kommen. Die vom Liebenden zwischenzeitlich erlebte Vielzahl von sexuellen Abenteuern stellt sich im Roman nicht (nur) als eskapistischer Zeitvertreib dar, sondern verdeutlicht, dass es dem Liebenden, demnach aller vorhanden Alternativen zum Trotz, immer nur auf "die Eine" ankam. Er zeitlebens seine Geliebte nicht nur nie in ihrer Individualität, ihrer spezifischen Weltsicht, ihrem Erleben aus dem Blick verloren hat, sondern sie fortwährend Richtschnur seines Handelns war.

Obgleich hier offensichtlich eher von Magie als von Realität erzählt wird, verdeutlicht Márquez in seinem Roman das im 17./18. Jahrhundert entwickelte Idealbild romantischer Liebe, von "Liebe als Passion" (Niklas Luhmann)2. In unserer modernen Gesellschaft, in der sich Personen nahezu einhellig als "individuell" wahrnehmen, hat romantische Liebe, zumindest als orientierendes Musterbild von Liebessemantik, nichts an Bedeutung verloren. Davon zeugt nicht zuletzt der Erfolg (nicht nur) dieses Liebesromans und unzähligern Kinofilmen diese Genres.

Gleichwohl kann angenommen werden, dass Kommunikation im Medium der Liebe angesichts moderner, internetbasierter Formen der Kommunikation unter Veränderungsdruck gerät. Davon soll dieser Artikel erzählen.

Liebe als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium

Die soziologische Systemtheorie geht davon aus, dass es sich bei Liebe um ein "symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium"3 handelt. Kommunikationsmedien sind als sozialevolutionär entwickelte Errungenschaften der modernen Gesellschaft zu verstehen, die angesichts des Problems entstanden, unwahrscheinliche Formen der Kommunikation wahrscheinlich zu machen. Und als unwahrscheinlich muss jegliche Form zielgerichteter (motivierter, erfolgreicher) Kommunikation gelten, da Sprache charakteristischer Weise erlaubt, alles zu negieren, also jederzeit ermöglicht, kommunikative Offerten als Zumutungen abzulehnen. Anknüpfend an unterschiedliche Problembezüge entstehen demnach Kommunikationsmedien, um Kommunikation trotzdem, entgegen ihrer Unwahrscheinlichkeit, erfolgreich zu motivieren.

So erlaubt etwa Geld als Kommunikationsmedium derart den - an sich höchst unwahrscheinlichen - Übergang von Eigentum. Macht erlaubt, eventuell unter Androhung von (physischer) Gewalt, dass höchst unwahrscheinliche, widerwärtige Handlungen, man denke an die Gemetzel in Kriegen, allenfalls sogar antizipierend, ohne die Nachdrücklichkeit von Instruktion oder Befehl, ausgeführt werden. Wahrheit als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium erlaubt die Durchsetzung unerhörten, sogar kontraintuitiven Wissens, Wissens ("Welle-Teilchen-Dualismus"?), für das wahrscheinlich wäre, dass es der "gesunde Menschenverstand" ablehnte.

Liebe nun erlaubt die Wahrscheinlichkeit der Unwahrscheinlichkeit, "dass man [...] für eine eigene Weltsicht Zustimmung und Unterstützung finden kann. Das Problem wird akut in dem Maße, in dem es zu einer stärkeren Individualisierung persönlicher Ansichten und Handlungsmotive kommt [...]. Es wird dann verlangt, dass man allen möglichen Idiosynkrasien in der Kommunikation Rechnung trägt, sie zunächst also erlebend hinnimmt. Die Liebe fordert darüber hinaus, dass mindestens ein anderer [...] sich durch eigenes Handeln sichtbar entsprechend bindet. In diesem Fall wird nicht das Spezifische, sondern das Besondere, das Partikulare, mit universaler Relevanz ausgestattet. Dies kann nur in der Form einer Zweierbeziehung geschehen."

Hindernisse der Liebe

Passionierte Liebe beweist sich also gerade nicht an "objektiven" Merkmalen, etwa einem attraktiven Aussehen oder an besonders liebenswerten Charakterzügen, sondern an der als einzigartig wahrgenommenen Individualität einer Person, ihrer spezifischen Weltsicht, beweist sich demnach augenfällig gerade an der Möglichkeit ihrer eigenen Unmöglichkeit, daran, dass liebend jegliche Eigenschaft, jegliches Erleben des anderen als liebenswert wahrgenommen wird. Klischeehaft deutlich etwa an der "unmöglichen" passionierten Liebe zu einem Kandidaten im Todestrakt einer Gefängniszelle, oder daran, dass Liebende "unverständlich" brutalen Machos verfallen. Dies selbstredend dann Beobachtungen nicht von Liebenden selbst, sondern eines externen, objektivierenden Beobachters.

Zwar sind persönliche Begegnungen, Begegnungen, welche potentiell dem Aufbau von Interaktionssystemen im Medium der Liebe dienen können, im Alltag ubiquitär, sind im Beruf, beim Einkauf, der Freizeit, der Schule, beim Sport, in der Aktualisierung von Freund- und Bekanntschaften der übliche, alltägliche Normalfall. Dennoch zeigt der ungewöhnliche Erfolg von internetbasierten Partnerschaftsagenturen, zeigen die dort millionenfach erstellten Persönlichkeitsprofile die gleichwohl bestehenden Schwierigkeiten, Kommunikation im Medium der Liebe zu realisieren.

Dies mag zuvorderst der erwähnten, ohnehin bestehenden außerordentlich hohen Unwahrscheinlichkeit dieser Form der Kommunikation zuzurechnen sein. Dies zumal wenn Liebe an idealen Erwartungen gemessen wird, wie sie notorisch im Kino oder in Romanen gezeigt werden, und so persönliche Erfahrungen unzulänglich erscheinen. Und dies zumal "Individualisierung", die Ausdifferenzierung idiosynkratischer personaler Identität, geradezu eines der Kennzeichen moderner Gesellschaft sein soll.

Zudem kann davon ausgegangen werden, dass eine Vielzahl von Alltagsbegegnungen, etwa im Berufsleben, durch Rollenerwartungen vorstrukturiert ist. Erwartungsabweichungen sind hier als unangemessen, allenfalls gar als kriminell zu vermeiden. Dass von professionellen Rollen gerade diese Haltung zu Erwartungsabweichungen selbst erwartet wird, macht abweichende (amouröse) Avancen einmal mehr unwahrscheinlich. Aber auch in Bekannt- oder Freundschaften abseits professioneller Rollen kondensieren rasch bestimmte Routinen, Konventionen und Erwartungen, so dass auch hier typischerweise "1000 Mal nichts passiert …"

Organisation von Bekanntschaft durch webbasierte Partnerschaftsagenturen

Durch internetbasierte Partnerschaftsagenturen und Dating-Apps lässt sich zwar nicht die Konstitution von Liebesbeziehungen organisieren (dies wäre angesichts des Problembezug der Liebe unmöglich), aber das Kennenlernen im grundsätzlichen Sinne, die Entstehung von Interaktionssystemen schlechthin lässt sich organisatorisch wahrscheinlich machen.

Die in diesem Zusammenhang unmittelbar auftauchende Frage, welche Auswirkungen gerade diese (organisierte) Form des Kennenlernens auf die oft letztlich angestrebte Kommunikation im Medium der Liebe hat, wird erstaunlicher Weise selten gestellt. Unreflektiert wird davon ausgegangen, dass die Form des Kennenlernens nicht von Relevanz ist. Allerdings ist, gerade angesichts der hohen, unwahrscheinlichen Anforderungen des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums Liebe, fraglich, dass die Form des Beginns einer Bekanntschaft keine - vielleicht aber sogar negative, der Liebe schadende? - Auswirkungen haben sollte. Gerade dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden.

Partnerschaftsprofile en masse als Bekanntschaftsmedium

Charakteristischerweise stellen webbasierte Partnerschaftsagenturen bzw. Dating-Apps, gleich ob diese nun im Dunstkreis "ernsthafter", partnerschaftlich angestrebter Liebe angesiedelt oder eher an der Organisation von Interaktionssystemen sexueller Prägung orientiert sind, mit einer möglichst großen Masse an Partnerschaftsprofilen ein Kommunikationsmedium zur Verfügung. Es lässt sich von der Ausprägung eines "Bekanntschaftsmediums" sprechen, eines Mediums, dessen Funktion darin besteht, die Konstituierung von Interaktionssystemen zu erleichtern, wahrscheinlich zu machen.

Von einem Kommunikationsmedium - einem Bekanntschaftsmedium lässt sich sprechen, weil die Vielzahl der Persönlichkeitsprofile als lose gekoppelte Elemente fungieren, welche sich in strikter Form koppeln lassen, also die Bildung von Interaktionssystemen in vielfach abgestufter Form erlauben: so etwa Emailkontakte, Chats, Telefonate, die in der Folge allenfalls erste Treffen face-to-face ermöglichen.

Dabei ist entscheidend, dass sich das Medium in strikter Koppelung nicht verbraucht, sondern bei einer möglichste hohen Anzahl an Profilen in immer wieder neuen Kombinationen nutzen lässt, ohne dass die bereits realisierten (enttäuschenden) strikten Koppelungen der Elemente im Medium memoriert würden. Es ist die Stabilität des Mediums gleichartiger Elemente in der Benutzung, die leichte Re- bzw. Dekombinierbarkeit der strikten Koppelung dieser Elemente (etwa durch die Technisierung eines "Anlächelns" oder "Zuzwinkerns"), die Vergesslichkeit des Mediums, die dazu führen, die Wahrscheinlichkeit von Bekanntschaften zu erhöhen.

Das Bekanntschaftsmedium ist in diesem Sinne durchaus anderen in der Gesellschaft entwickelten Kommunikationsmedien, etwa dem Geld, vergleichbar. Auch dieses Medium lässt sich zu strikter Form, also zu spezifischen Preisen, koppeln und wieder entkoppeln, ohne dass das Medium dadurch verbraucht würde. Es lässt sich in immer wieder neuen Kombinationen (Preisen) gebrauchen, ohne dass die strikte Koppelung im Medium memoriert würde - was sich etwa "Geldwäsche" zunutze macht.

Unwahrscheinlichkeit von Liebe vs. Wahrscheinlichkeit von Bekanntschaft

Interessant ist nun, dass die Liebe als Kommunikationsmedium und das Bekanntschaftsmedium inkompatiblen - ja widersprüchlichen Beobachtungsmodi folgen. Soll in der Liebe die - eben einzigartige - Individualität einer Person in den Blick geraten, wird im Bekanntschaftsmedium, in der Vielzahl der notwendig gleichartigen, standardisierten Persönlichkeitsprofile, ausdrücklich die Vergleich- und Austauschbarkeit von Personen beobachtet. Charakteristisch für Liebe ist die systematische Überschätzung der Unterschiedlichkeit von Personen; hingegen ist das Bekanntschaftsmedium so disponiert, dass die Individualität von Personen systematisch unterschätzt wird.

Bekanntschaften sind bei dieser Disposition von Beginn an, jedenfalls nach den Maßstäben passionierter Liebe, mit dem Makel der Kontingenz ausgestattet: Nun ist mir also gerade diese Person bekannt geworden, gleichwohl das Bekanntschaftsmedium in seiner Funktion klar und deutlich gemacht hat, dass es auch eine ganz andere hätte sein können. Die für die romantische Liebe zentrale Individualität von Personen wird im Bekanntschaftsmedium durch die Auswahl aus einem de-individualisierten Pool von Personen korrumpiert. Ein ideal romantischer, nicht korrumpierter Beginn der Liebe wäre ohne Wahl, wäre eine Zufalls- oder Schicksalsbegegnung.

Es wäre keine Problemlösung in diesem Zusammenhang, die Ausprägung von mehr Individualität in der Erstellung der Persönlichkeitprofile zuzulassen. Schließlich ist die Gleichartigkeit der Elemente des Bekanntschaftsmediums Voraussetzung, dessen Funktion zu gewährleisten, nämlich Bekanntschaft zu erleichtern, wahrscheinlich zu machen. Eine zu große Inhomogenität der Elemente im Sinne persönlicherer (allenfalls gar ehrlicherer?) Persönlichkeitsprofile würde den medialen Charakter des Bekanntschaftsmediums zerstören. Die Wahrscheinlichkeit von Bekanntschaften wäre in schon vorweg strikterer Koppelung prädisponiert: Vergleichsweise wenige, erfolgreiche, begehrte Profile würden vermutlich einer Vielzahl von weitaus weniger erfolgreichen oder gar ignorierten Profilen gegenüberstehen.

Die weitgehende Homogenität der Elemente des Bekanntschaftsmediums sorgt also für eine weitgehend ausgeglichene Chancenverteilung für das Zustandekommen von Bekanntschaften. Funktionsnotwendig müssen es demnach vergleichsweise feine Unterschiede im Medium sein (zuvorderst wohl Bilder), derart Individualität eher kaschierend als hervorhebend, die einen Unterschied machen können: nämlich die Auswahl einer Bekanntschaft, die Absicht, Elemente strikt zu koppeln, zu motivieren.

Auch wenn der Makel des Anfangs - das Paradox einer nachdrücklich vorgeführten Kontingenz von Individualität - üblicherweise schnell von der tatsächlich je individuellen Interaktionsgeschichte der allenfalls dennoch zustande gekommenen Liebesbeziehung überlagert oder sogar vergessen wird, bleibt die Existenz von Bekanntschaftsmedien ein gesellschaftliches Faktum. Und damit die allenfalls leicht zu realisierende und wie immer verlockende Möglichkeit, es (vorschnell?) bei Problemen mit anderen, "individuelleren" Personen zu versuchen. Das ist unabhängig davon, wie letztlich Bekanntschaft zustande gekommen ist.

Konsum von Bekanntschaft

Verheerend kann sich die allzu intensive Nutzung des Bekanntschaftsmediums auswirken. Es können sich nämlich schnell paradoxe Effekte einstellen. Je verzweifelter der oder die "Richtige" gesucht wird - und das Bekanntschaftsmedium ermöglicht den regelrechten Konsum von Bekanntschaften -, desto stärker gerät die Redundanz, die Austauschbarkeit von Personen in den Blick. Je mehr Bekanntschaften konsumiert werden, desto wahrscheinlich wird, dass nicht die je einzigartigen Individualität von Personen beobachtet wird, was Liebe zuträglich wäre, sondern der Vergleich von Personen die Wahrnehmung leitet - und somit die allenfalls Liebe generierende Individualität von Personen gerade negiert wird! Problemlösung in der Verzweiflung könnte dann allenfalls sein, sich nach Möglichkeit in irgendeine Beziehung zu stürzen.

Die zu erwartende Vielzahl von Enttäuschungen im Konsum von Bekanntschaften ist selbst wiederum mit negativen Konsequenzen verbunden. Es können Erwartungshaltungen kondensieren, die genau diesem Faktum gerecht werden. Personen werden dann auf die Schnelle, auf Basis von sich im Zuge des Bekanntschaftskonsums herausbildender Stereotype beobachtet und bewertet (abgewertet). Also in reservierter, distanzierter Haltung - und so einmal mehr gerade abgesehen von der Beachtung je individueller Personalität.

In der Folge mag die Individualität von Personen dann nicht mehr nach Maßgabe potentieller Liebschaft, sondern geleitet von Misstrauen beobachtet werden, um potentiell neuen Enttäuschungen zu entgegnen. Dies zumal das Bekanntschaftsmedium erlaubt (erleichtert durch oftmals gegebene Anonymität), dass es für die Nutzung von finanziellen Vorteilen (modernen Formen des Heiratsschwindels) oder allenfalls anderer krimineller Interessen ausgebeutet werden kann.

Zukunft der Liebe

Zu sehen ist demnach, dass die Liebe in ihrer Realisierung heutzutage nicht nur ihre übliche Unwahrscheinlichkeit angesichts ihres extravaganten Problembezugs zu überwinden, sondern sie sich neu auch gegen die erwähnten strukturellen Hindernisse der modernen Bekanntschaftsmedien zu behaupten hat. Dass trotzdem diese Medien nicht als potentielle Hindernisse für die Entstehung von Liebesbeziehungen gesehen werden, liegt daran, dass ohnehin, erfahrungsgemäß und aufgrund der verstiegenen Ansprüche der Liebe, hier mit der Unwahrscheinlichkeit des Zustandekommens von Kommunikation gerechnet wird. Da also ohnehin Misserfolg fast erwartet wird, entfällt - zum Glück für das Geschäftsmodell der Partnerschaftsagenturen - die Notwendigkeit einer externen Zurechnung von Enttäuschungen auf Schuld hin (obgleich dies, eigener Integrität geschuldet, wohl dennoch häufig geschieht). Der übliche Misserfolg revitalisiert vielmehr fortlaufend den Bedarf des Angebots der Partnerschaftsagenturen.

An den neu ausdifferenzierten Bekanntschaftsmedien ist zu sehen, wie die moderne Gesellschaft mit neuen Formen der Liebessemantik experimentiert. Zu vermuten ist immerhin (mehr als Vermutungen sind angesichts der Neuheit computergestützter Formen von Kommunikation nicht möglich), dass Liebe zu pragmatischeren Formen findet, realistischere Erwartungen ausprägt, mehr Bescheidenheit im je individuellen Wahrgenommenwerden erlaubt, kurze Liebesepisoden nicht mehr enttäuschend wirken, sondern vielmehr erwartet werden.

Üblich kann werden, dass die Erwartung von Enttäuschungen gemeinhin erwartet und gerade so Enttäuschung reduziert wird. Es sind dies wohl nötig gewordene Formen der Reduktion von Komplexität. Um passionierte, romantische Liebe zu erlauben, war Individualität in der Vormoderne zu unterkomplex, in der Moderne hingegen scheint sie zu komplex ausdifferenziert zu sein.

Es könnte sein, dass Liebe sich, kompatibler dann mit den ausdifferenzierten Bekanntschaftsmedien, mit der vergleichsweise anspruchslosen (naturgemäß kurzepisodigen) Beobachtung der Neuheit von Personen begnügt, also dass vorrangig sexuell geprägte Verliebtheiten üblich werden (im Sinne etwa der etablierten Urlaubsflirts). Auf die extrem anspruchsvolle Beobachtung umfassender Individualität, die prätentiöse Wahrnehmung individueller Weltsicht, könnte verzichtet werden. - Aber lässt sich dann überhaupt noch von Liebe sprechen?

In der Praxis von Paarbeziehungen, die sich zumeist ohnehin kaum von den Zumutungen der Idealbilder romantischer, passionierter Liebe irritieren lassen, kann sowieso von Pragmatik ausgegangen werden. Sie kennzeichnet langjährige Beziehungen, bewährt und eingeschliffen in Routinen und Gewohnheiten, Beziehungen, die sich an finanziellen Notwendigkeiten orientieren oder den Zwängen und Pflichten der Betreuung und Erziehung des Nachwuchses, Beziehungen "offener" Art, die nach Maßgabe der Nebenexistenz von Geliebten Bestand haben, Beziehungen, die lediglich der Institution der Ehe ihren Bestand schulden, Beziehungen im Sinne von episodenartigen, eher sexuell motivierten Liebeständeleien, Beziehungen, die sich in der schlichten Abwesenheit von Alternativen bewähren, Beziehungen, die aufgrund der (etwa berufsbedingten) Abwesenheit der Partner "harmonieren" und so erst im Rentenalter problematisch werden, etc. - Alternative bleibt natürlich ein Single-Dasein.