Im Land der Brunnenvergifter

Wer Fremdenhass schürt, kann Wahlen gewinnen. Eine Demokratie haben wir schon lange nicht mehr - Teil 25

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Deutschland verschwendet ein Potenzial menschlicher Fähigkeiten durch Beharren auf dem völkischen Mantra "Wir sind kein Einwanderungsland". Ein wachsender Teil der nach Deutschland zugewanderten Menschen lebt in problematischen Verhältnissen. Überdurchschnittlich viele von ihnen sind auf staatliche Unterstützung angewiesen. Das ist ein Versagen der Politik, die nicht rechtzeitig die richtigen Weichen gestellt hat, und nicht etwa der genetisch minderbemittelten, bildungsfernen Araber und Türken - wie Thilo Sarrazin das gern behauptet. Die Politiker aller Parteien haben die Dramatik der Situation nicht einmal verkannt. Sie haben sie ignoriert. Sie wollten nichts davon wissen. Helmut Kohl hat noch 1983 allen Ernstes die Forderung formuliert: "Die Zahl der Ausländer in Deutschland muss halbiert werden." Dabei brauchen die Konservativen, die Sozialdemokraten und die Liberalen einander - wie so oft - nichts vorzuwerfen. Sie sind alle auf derselben dümmlich-populistischen Welle geschwommen und schwimmen dort noch immer.

Erst 2004 kam es zur Verabschiedung eines Zuwanderungsgesetzes mit der offiziellen Bezeichnung "Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern". 2005 trat es in Kraft.

Das Gesetz erhebt zwar den Anspruch, die Einwanderung zu regeln, tatsächlich enthält es jedoch kaum neue Möglichkeiten dafür. Noch nicht einmal der Begriff "Einwanderung" kommt darin überhaupt vor. Es ist die übliche Mogelpackung, mit der sich die Politik seit den 1970er Jahren bisher aus jeder Verantwortung gestohlen hat.

Vor allem lässt das Zuwanderungsgesetz die Zuwanderung qualifizierter Arbeitnehmer nicht zu. Hier wirkt die "Zuwanderungspolitik" seit den 1970er Jahren nach, als nach dem Anwerbestopp statt qualifizierter Arbeitnehmer überwiegend geringer qualifizierte Zuwanderer aus humanitären Gründen in das Land gelassen wurden (Familienzusammenführung, Bürgerkriegsflüchtlinge, Asylbewerber).

Das hätte man sinnvoll mit Zuwanderung von Arbeitskräften ergänzen können. Hat man aber nicht. Das hätte auch die spätere Zuwanderungsdebatte entschärft, weil die positive Wirkung von Zuwanderung deutlicher geworden wäre. Auch diese Chance wurde verpasst.

Bis in die frühen 1990er Jahre hinein lag die jährliche Bruttozuwanderung zum Teil über einer Million, und die Nettozuwanderung übertraf 600.000 Menschen. Dennoch leierten die Politiker immer dieselbe Redensart herunter, dass Deutschland kein Einwanderungsland war und deshalb auch kein Einwanderungsgesetz brauchte.

Angesichts der realen Zahlen wäre das ein - wenn auch primitiver - Witz gewesen, wenn daran irgendetwas gewesen wäre, worüber man lachen könnte. Aber es fehlte eine Pointe. Denn es war nur ein besonders bestürzendes Zeichen einer gnadenlosen, ja geradezu barbarischen Verbohrtheit, die darauf zurückzuführen ist, dass der "Weitblick" demokratischer Politiker immer nur bis zum nächsten Wahltermin reicht.

Seit 2010 ziehen nach Angaben des Statistischen Bundesamts (Destatis) wieder deutlich mehr Menschen nach Deutschland zu. 2013 lag der Saldo von Zu- und Abwanderern nach einer Hochrechnung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) sogar bei plus 400.000. Das entspricht einem Plus von mehr als zehn Prozent im Vergleich zu 2012 und ist der höchste Zuwanderungssaldo seit 1993.

Während Politiker und die breite Bevölkerung sich noch in dumpfer Fremdenfeindlichkeit die Köpfe über die Bedrohung der deutschen Integrität aus dem Ausland heiß reden, war die Zuwanderung nach Deutschland teilweise sogar rückläufig.

Anders als für die USA, die sich als Schmelztiegel begreifen, in dem jeder Einwanderer eine Chance bekommt, ist die Migrationsbilanz für Deutschland nicht sehr positiv. Während in den USA Zuwanderer mit einer besonderen Dynamik zur Wirtschaftskraft beitragen und die Wissensgesellschaft bereichern, profitiert Deutschland von einem großen Teil seiner Zuwanderer längst nicht so, wie es möglich wäre.

Das Land verschwendet ein Potenzial menschlicher Fähigkeiten. Ein wachsender Teil der nach Deutschland zugewanderten Menschen lebt in problematischen Verhältnissen. Überdurchschnittlich viele von ihnen sind auf staatliche Unterstützung angewiesen. Das ist ein Versagen der Politik, die nicht rechtzeitig die richtigen Weichen gestellt hat, und nicht etwa der genetisch minderbemittelten, bildungsfernen Araber und Türken - wie Thilo Sarrazin das gern behauptet.

Man hätte gehofft, dass die Politiker aller Parteien angesichts der allgemein zugänglichen Zahlen über den demografischen Wandel alarmiert wären, genauer: schon seit Jahrzehnten alarmiert gewesen wären. Doch weit gefehlt. Sie haben die Dramatik der Situation nicht einmal verkannt. Sie haben sie ignoriert. Sie wollten nichts davon wissen. Helmut Kohl hat noch 1983 allen Ernstes die Forderung formuliert:

Die Zahl der Ausländer in Deutschland muss halbiert werden.

Dabei brauchen die Konservativen, die Sozialdemokraten und die Liberalen einander - wie so oft - nichts vorzuwerfen. Sie sind alle auf derselben dümmlich-populistischen Welle geschwommen. So verständigte sich Ende 1981 die sozialliberale Bundesregierung unter Helmut Schmidt und Hans-Dietrich Genscher zu dem Grundsatz:

Es besteht Einigkeit, dass die Bundesrepublik Deutschland kein Einwanderungsland ist und auch nicht werden soll. Das Kabinett ist sich einig, dass für alle Ausländer außerhalb der EG ein weiterer Zuzug unter Ausschöpfung aller rechtlichen Möglichkeiten verhindert werden soll.

Damals lebten gerade mal 4,6 Millionen Ausländer in der Bundesrepublik, von denen 2,1 Millionen sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren. Heute sind es mehr als doppelt so viele.

Das vergiftete Klima der ausländerpolitischen Diskussion artikulierte sich auch im "Heidelberger Manifest" vom 17. Juni 1981. Zahlreiche Hochschulprofessoren wandten sich darin gegen die - wie es hieß - "Unterwanderung des deutschen Volkes" durch Ausländer, gegen die "Überfremdung unserer Sprache, unserer Kultur und unseres Volkstums". Passagen des Wortlauts hätten bestens auf einen Reichsparteitag der NSDAP gepasst.

Ausländerfeindlichkeit schlug sich Anfang der 1980er Jahre in Bürgerinitiativen für einen "Ausländer-Stopp" nieder. Unter Androhung von Anschlägen und mit Parolen "Deutschland den Deutschen!" versuchte beispielsweise 1982 in Baden-Württemberg eine ausländerfeindliche Gruppe, Firmen zu erpressen. Sie verlangte die Entlassung ausländischer Arbeitnehmer.