40 Prozent der Daten des Verfassungsschutzes Niedersachsen müssen gelöscht werden

Die Überprüfung durch eine Task Force stellte viele Missstände und Verletzungen des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung auch bei Journalisten und Anwälten fest

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Eigentlich ist der Bundesverfassungsschutz dafür zuständig, über "Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind", und Spionage zu informieren. Das hat er offensichtlich bei den besten Freunden der NSA nicht gemacht, während im Hinblick auf die NSU einmal wieder deutlich wurde, dass er - bestenfalls - auf dem rechten Auge blind war. Verfassungsschutzchef Maaßen erklärte, erst über Snowdens Leaks Kenntnis von NSA-Überwachungsprogramm erhalten zu haben. Auch wenn er das Abhören von Merkels Handy bedauert, will er an der guten Zusammenarbeit mit den US-Geheimdiensten nichts ändern und macht schon deutlich, dass er auch gegenüber dem NSA-Untersuchungsausschuss nicht gerade auf Offenheit setzt.

Der Inlandsgeheimdienst sammelt auch gerne so viele Daten, wie er nur kann, wobei ihm rechtlich natürlich die Hände gebunden sind. Ob hier die Zusammenarbeit mit der NSA hilft, auch an Informationen von Deutschen heranzukommen, bleibt vorerst ein Geheimnis. Herausgestellt wird aber von Maaßen die Zusammenarbeit auch damit, dass die NSA ja einen Hinweis gegeben habe, der zur Ergreifung der Sauerland-Gruppe geführt habe. Aber von einem groß angelegten Abhörprogramm habe man nichts gewusst, wurde immer wieder behauptet.

Einen kleinen Blick auf die Aktivitäten der Verfassungsschützer hat der Bericht der von Niedersachsens Innenminister Pistorius eingesetzten Task Force ergeben. Sie war unabhängig neben der Expertengruppen zur Reform des Verfassungsschutzes (Reform-AG) eingerichtet worden, nachdem entdeckt worden, dass der Niedersächsischen Verfassungsschutz Daten von "publizistisch und journalistisch tätigen Personen", gerne solchen, die sich mit Rechtsextremismus beschäftigen, einem Anwalt und einer Mitarbeiterin der Grünen-Fraktion sowie einem Mitarbeiter der Linkspartei unzulässig gespeichert worden waren. Dass sich doch etwas verändern kann, zeigt sich daran, dass mit der neuen Landesregierung auch eine neue Präsidentin des Verfassungsschutzes, Maren Brandenburger (SPD), ihr Amt antrat und dort nach dem NSU-Skandal für eine Reform eintrat, auch wenn sie durchaus Kritik für mangelnde Konsequenz erntet. Auf ihre Veranlassung wurden die unzulässigen Speicherungen entdeckt und fand die Überprüfung aller 9000 Akten in die Wege geleitet.

Letzte Woche wurde jedenfalls der Abschlussbericht vorgestellt. Ergebnis ist, dass fast 20 Prozent der personenbezogenen Daten (1973) nicht hätten gespeichert werden dürfen oder längst hätten gelöscht werden müssen, weiter 20 Prozent (1564) sollen schnell gelöscht werden, weil sie für die "Aufgabenerfüllung" nicht notwendig seien. Pistorius schiebt das Fehlverhalten nicht wie üblich einzelnen "schwarzen Schafen" zu, sondern spricht von "Organisationsverschulden", weil "das System offenbar versagt hat und es keine Absicherung gab". Gleichzeitig schützt dies auch die Mitarbeiter, denn es scheint trotz gesetzeswidriger Verstöße und des "einen Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung" keine personellen Konsequenzen zu geben: "Es erfolgte ausdrücklich keine Zuordnung der Prüfergebnisse zu einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verfassungsschutzes", heißt es vielsagend im Abschlussbericht. Da scheinen dem Verfassungsschutz und dem Innenministerium der Friede im Haus näher zu stehen als der der Verfassungsschutz gegenüber den Verfassungsschützern. Ob das mehr Vertrauen schafft?

Von den 9004 Datensätzen zu Linksextremismus, Extremismus mit Auslandsbezug/Islamismus und Rechtsextremismus können nach Ansicht der Task Force nur 61,2 Prozent weitergeführt werden. Möglicherweise würde eine genauere Prüfung noch mehr Fragwürdiges finden. Geprüft wurden auch nur die gesamten Datensätze, nicht einzelne Informationen in diesen. Ob die Task Force so unabhängig war, wie das Innenministerium siw darstellt, kann bezweifelt werden. Vorsitzende war Martina Schaffer, Vizepräsidentin des Niedersächsischen Verfassungsschutzes, daneben bestand sie aus Christian Büschen, ehemaliger Verfassungsschutzpräsident, einem LKA-Beamtem und drei Mitarbeitern des Innenministeriums, ein Vertreter des Landesbeauftragten für den Datenschutz hatte lediglich "beratende Funktion".

Speicherungspraxis scheint dem Prinzip "mitgehangen, mitgefangen" zu entsprechen

Gespeichert wurden etwa Daten von Minderjährigen, auch wenn bei diesen keine "gewalttätigen Bestrebungen" vorlagen, was aber Voraussetzung wäre. Standardmäßig wurden gerne Daten länger als notwendig gespeichert. Nur in Ausnahmefällen können Daten bis zur Höchstfrist gespeichert werden, um dann noch einmal geprüft zu werden, für Verdächtige gilt eine Frist höchstens von 2 Jahren bis zur Wiedervorlage. Die Behörde hat gleich für alle personenbezogenen Daten den Ausnahme- zum Regelfall gemacht, wohl auch, um sich Arbeit zu sparen. Die betroffenen Personen sollen nicht benachrichtigt werden, der Innenminister erwägt allerdings, ob bei besonders schwerwiegenden Grundrechtseingriffen eine Mitteilung erfolgen sollte. Da muss man erst die Taten abwarten.

Der Verfassungsschutz scheint gerne nach dem Motto "mitgegangen, mitgefangen" verfahren zu sein, wie das ja auch das Prinzip bei der Analyse der Metadaten ist. Wer also irgendwo aufgetaucht ist, wo man Verfassungsfeindliches vermutet, kann auch ohne jeden konkreten Verdacht in die Akten gelangen. "Bürgerlicher Protest" führt oft dazu, als linksextremistisch eingestuft zu werden. So wurde 2012 eine Studentin als verdächtig kategorisiert, "nur weil sie in einem von der Polizei bewerteten 'Szeneobjekt' wohnte", wie der Innenminister sagte. Weitere Verdachtsmomente gab es nicht. Die Erstspeicherung der Bewohner von Szeneobjekten ist, so heißt es im Bericht, "allein aufgrund ihrer Meldeadresse rechtswidrig". Ähnliches trifft unter der Rubrik Islamismus für Moscheebesucher oder der Teilnahme an einem Freitagsgebet.

Es gab nicht wenige Fälle von bürgerlichem Protest, die wegen einer falsch vorgenommen Abgrenzung als linksextremistisch eingestuft wurden. Das betraf beispielsweise Teilnehmer von Protesten der Friedens-, Ökologie-, Anti-Atomkraft-Bewegung, denen kein "staatsformüberwindender Ansatz" zugrundliegt. Aus der Teilnahme von Autonomen bei solchen Protesten oder antifaschistischen Aktionen dürfe "nicht pauschal auf den Gesamtcharakter einer Veranstaltung oder auf die Motivation der Beteiligten rückgeschlossen werden", mahnt die Task Force. Davon sei eine "Betätigung gegen Atomkraft und Castor-Transporte als linksextremistisches Aktionsfeld" zu unterscheiden, das "auf die Überwindung des politischen Systems in Deutschland" abziele. Der Innenminister erwähnt einen "Landwirt, der ausschließlich im Rahmen von Blockadeaktionen, insbesondere mittels Traktoren, im Rahmen der Anti-Castor-Proteste auffällig geworden war".

Und man fand weiterhin gespeicherte Daten von Abgeordneten der Linkspartei, auch von ehemaligen, obgleich das Bundesverfassungsgericht im Fall Ramelow anders entschieden, was aber den Verfassungsschutz nicht zu stören schien. Für die Linke zeigt der Bericht, dass der Verfassungsschutz "Bürgerrechten, der Demokratie und dem Rechtsstaat" schadet. Sie fordert daher die Auflösung des Niedersächsischen Verfassungsschutzes. Und wirft der rot-grünen Regierung vor, nur besser kontrollieren zu wollen, aber keine "weitreichenden Konsequenzen" vorzunehmen.

Scharfe Kritik kommt auch von der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg (BI). Sie will wissen, wie viele Castor- und Atomkraftgegner vom Verfassungsschutz illegal beobachtet wurden. Man habe gegen die "offensive Beobachtung" immer wieder geklagt, aber die Klagen seien nicht immer erfolgreich gewesen, weil der Verfassungsschutz keine Auskunft erteilt, so lange eine Person unter Beobachtung steht, also vermutlich, so lange die Daten nicht gelöscht wurden. "Die Speicherung von Atomkraftgegnern in Verfassungsschutzdateien stellt eine massive Einschränkung der Grundrechtsausübung auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit dar", so Martin Donat.