Hartz-IV für EU-Ausländer: Integration in den Arbeitsmarkt als zentrales Kriterium

Der Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof unterstützt SGB-Regelungen zum Ausschluss von Sozialleistungen

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Wie weit lassen sich deutsche Bestimmungen zu den Sozialleistungen mit europäischem Recht vereinbaren? In der zugespitzten Form, ob das europäische Recht deutsche Barrieren aushebelt, die dem sogenannten "Sozialleistungstourismus" vorgeschoben werden, sorgt die Frage verlässlich für Empörung, wie sich bei der Entscheidung eines deutschen Sozialgerichts (Hartz-IV: "Erhebliche Zweifel, ob der Leistungausschluss mit dem EU-Gemeinschaftsrecht vereinbar ist") und bei den Reaktionen auf eine Stellungnahme der EU-Kommission Anfang des Jahres ("Hartz-IV auch für Zuwanderer, die nicht aktiv nach einer Arbeit suchen") zeigte. Dass sich aus der Stimmung Kapital für Wahlkämpfe schlagen lässt, besonders unter nationalgesinnten "EU-Skeptikern", ist kein Geheimnis. So halten manche das Datum der Veröffentlichung eines Gutachtens, das für die deutschen Sozialleistungsbegrenzungen eintritt, für keinen Zufall.

Das Gutachten stammt vom Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof (EuGH), Melchior Wathelet. Nach seinen Ausführungen (zusammengefasst hier; die ausführliche Fassung seiner Schlussanträge findet sich hier) haben die deutschen Ausschlussrichtlinien gegenüber europäischen Bestimmungen Bestand.

Als zentrales Kriterium setzt Wathelet in seiner Argumentation den Integrationswillen der Antragsteller:

Rechtsvorschriften, die Leistungen der Grundsicherung Personen verweigern, die weit davon entfernt sind, sich in den Arbeitsmarkt integrieren zu wollen, und einzig und allein mit dem Ziel nach Deutschland kommen, Nutzen aus dem deutschen Sozialhilfesystem zu ziehen, stehen nach Ansicht von Generalanwalt Wathelet in Einklang mit dem Willen des Unionsgesetzgebers.

Pressemitteilung des Gerichtshof der Europäischen Union

Der Fall

Die juristische Bewertung - in Form von Schlussanträgen - des Generalanwalts Wathelet betrifft einen Fall, den das Sozialgericht Leipzig als Vorabentscheidungsersuchen an den Europäischen Gerichtshof weitergeleitet hat. Es geht darin um eine Rumänin, die seit mehreren Jahren in Deutschland bei ihrer Schwester lebt zusammen mit ihrem Sohn, der in Deutschland geboren ist. Die Schwester versorgt die Frau mit Naturalien, für ihren Sohn bekommt sie Kindergeld und einen Unterhaltsvorschuss in Höhe von monatlich 133 Euro vom Jugendamt Leipzig.

Nach den Gerichtsunterlagen hat die Frau weder einen erlernten noch einen angelernten Beruf und "war bislang weder in Deutschland noch in Rumänien erwerbstätig". Sie stellte beim Jobcenter der Stadt einen Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II. Die wurde abgelehnt - mit Berufung auf den berühmten Ausschlussparagrafen des SGB II, § 7 Abs. 1. Satz 2:

Ausgenommen sind
1. Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland
Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts,
2. Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen,
3. Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes.

Rechtsunsicherheit durch Unionsrecht

Der Fall landete nach einigem Hin-und Her schließlich vor dem Sozialgericht in Leipzig. Dort war man zwar der Auffassung, dass die Frau keinen Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung hätte, aber das Gericht stellte sich die Frage, ob nicht EU-rechtliche Bestimmungen dem entgegenstehen, daher ging ein Vorabentscheidungsersuchen an den Europäischen Gerichtshof.

Dass der Ausschluss von Sozialleistungen auf europäischer Ebene u.U. anders beurteilt wird, dafür gibt es Hinweise wie etwa die erwähnte Stellungnahme der EU-Kommission - und einige Rechtsunsicherheit (Generalverdacht gegen eine genauere Prüfung von Einzelfällen) darüber, wie das Ausschlussrecht der deutschen Sozialgesetzgebung gegenüber Ansprüchen, die aus der grundsätzlichen Gleichbehandlung der EU-Bürger resultieren, abgewogen wird.

"Ungleichbehandlungspotiential", Gestaltungsfreiheit und Verhältnismäßigkeit

Aus dieser Fragestellung sind die Ausführungen Wathelets interessant. Er konstatiert nämlich ein "Ungleichbehandlungspotiential" bei der Gewährung der Sozialhilfeleistungen im Verhältnis zwischen den Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats und den anderen Unionsbürgern (Punkt 96). Das aber werde durch europäische Regelungen zwangsläufig geschaffen. Er zitiert dafür die Richtlinie 2004/38, insbesondere Artikel 7, als Referenz.

Ist Ungleichheit in europäischen Regelungen schon eingeschrieben, so gibt dies den Einzelstaaten Gestaltungspielraum, folgert Wathelet. Für ihn rücken dann Verhältnismäßigkeitsgrundsätze in den Mittelpunkt, über die der Staat selbst entscheiden kann, da die Sozialhilfeleistungen letztlich seinen Haushalt betreffen. "Die Gewährung einer Sozialhilfeleistung lastet zwangsläufig auf dem Sozialhilfesystem."

Gegen "Missbräuche und eine gewisse Form von 'Sozialtourismus'"

Zur Verhältnismäßigkeit gehört nach Ansicht des Generalanwalts, dass das Unionsrecht es Unionsbürgern gestattet, sich mit Familienangehörigen für drei Monate in einem anderen Mitgliedsstaat als dem, deren Staatsbürgerschaft sie haben, aufzuhalten, solange sie die Sozialhilfeleistungen des Mitgliedsstaates "nicht unangemessen in Anspruch nehmen". Für einen Zeitraum über drei Monate hinaus, müssen sie, wie es auch Unionsrichtlinien (Artikel 7 der Richtlinie 2004/38) verlangen, über "ausreichende Existenzmittel verfügen".

Seine Schlussfolgerung:

Im vorliegenden Fall fügt sich meines Erachtens die nationale Regelung, indem sie Personen, die einzig und allein mit dem Ziel nach Deutschland kommen, Nutzen aus dem Sozialhilfesystem dieses Mitgliedstaats zu ziehen, und sich in keiner Weise darum bemühen, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren, in den Willen des Unionsgesetzgebers ein.

Damit kann verhindert werden, dass die Personen, die von ihrer Freizügigkeit Gebrauch machen, ohne sich integrieren zu wollen, eine Belastung für das Sozialhilfesystem werden. Sie steht außerdem mit dem den Mitgliedstaaten überlassenen Gestaltungsspielraum in diesem Bereich in Einklang. Sie erlaubt es mit anderen Worten, Missbräuche und eine gewisse Form von "Sozialtourismus" zu verhindern (Punkt 47).

Allerdings weist Wathelet daraufhin, dass seine Ansicht durchaus von anderen angefochten werden kann, die auf Grundlage beispielsweise des Artikel 18 des EU-Vertrages bzw. Artikel 20 und 21 grundsätzlich gegen europäische Richtlinien argumentieren.

Die Schlussanträge des Generalanwalts sind übrigens nicht bindend.