Von der EU aufgebaute "Grenzschutztruppen" in Libyen verselbständigen sich

Tobruk, unweit der ägyptischen Grenze. Foto: Abu Samiha; Lizenz: CC BY-SA 1.0

Nun scheinen sie die amtierende Regierung zu bekämpfen

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Die Europäische Union hat Teile jener Truppen ausgebildet, die in der gegenwärtigen Krise zu den Waffen greifen. Dies bestätigt der frühere Ministerpräsident Ali Zeidan in einem Interview mit der Deutschen Welle. Demnach kämpfen sogenannte "Grenzschutztruppen" auf Seiten des Militärgenerals Chalifa Haftar, der dem amtierenden Übergangsrat Korruption und "Unterstützung des Terrorismus" vorwirft. Der Aufbau dieser "Grenzschutztruppen" wurde von der EU eigentlich unterstützt, um Angehörige von Milizen zu demilitarisieren und an den Staat zu binden. Nun scheinen sie die amtierende Regierung zu bekämpfen.

Haftar hatte mit seiner irregulären Militäroffensive vergangene Woche islamistische Milizen angegriffen. Kämpfe seiner "Nationalen Armee" wurden aus Benghazi und Tripolis gemeldet, auch Raketen wurden eingesetzt (Libyen: Staatsstreich ohne Staat).

Die Auseinandersetzungen tangieren die von der EU finanzierten Ausbildungsmaßnahmen für libysche Sicherheitskräfte: Mit der Mission "EUBAM Libyen" will der Staat zunächst die Kontrolle seiner Grenzen zurückerobern. Hierfür werden sogenannte "Grenzschutztruppen" aufgebaut. Diese gut ausgerüstete Gendarmerie ist zwar dem Verteidigungsministerium unterstellt, übernimmt aber Aufgaben im Innern.

Die "Grenzschutztruppen" werden neben Armee, Luftwaffe und Marine als vierte Teilstreitkraft vom Militär befehligt. Sie sollen aber nicht nur für den Grenzschutz zuständig sein: Aus einem Geheimpapier zur EUBAM-Mission geht hervor, dass auch "sensible Infrastruktur" gesichert werden soll.

Hierzu gehört auch die Energieversorgung. Die "Grenzschutztruppen" könnten dann für die Sicherung westlicher Ölanlagen eingesetzt werden. Nun heißt es, dass die neue Einheit seit letzter Woche auf Seiten abtrünnigen Generals Haftar an bewaffneten Auseinandersetzungen beteiligt ist.

Staat hat keine Kontrolle

Eigentlich obliegen Grenzkontrollen der Grenzpolizei und der Küstenpolizei, die beide zum Innenministerium gehören. Wirklich durchsetzen können sich die zivilen Behörden aber nicht. Lediglich an den Flughäfen Tripolis und Misrata übt die Grenzpolizei Machtbefugnisse aus, hinsichtlich der Landgrenzen werden nur Grenzübergänge nach Tunesien und Ägypten vom Innenministerium kontrolliert.

Die Seegrenzen werden deshalb von rund 3.000 Angehörigen der Küstenwache überwacht, die ebenfalls dem Verteidigungsministerium untersteht. Militärische Kontrollzentren in Tripolis und Benghazi werden im Rahmen eines anderen EU-Projekts an die Grenzüberwachung von EU-Mitgliedstaaten angebunden (Festung Europa jetzt mit Bewegungsmelder).

Auch der Schutz der Landgrenzen wird zukünftig vom Militär übernommen. Im Rahmen von "EUBAM Libyen" soll die Regierung in einem "Integrierten Grenzmanagement" unterstützt werden. Gemeint ist die "Zusammenführung und Unterstützung" aller zivilen und militärischen Behörden, die mit Aufgaben des Grenzschutzes betraut sind. Im Falle der Seegrenzen bedeutet das etwa die Zusammenarbeit der Hafenbehörden und der Telekommunikationsbehörde mit der Küstenwache, die allesamt maritime Aufklärungssysteme betreiben.

An "EUBAM Libyen" nehmen aber auch das libysche Finanzministerium und das Transportministerium teil. Justizbehörden werden nicht adressiert, obwohl hier eigentlich großer Bedarf bestünde. Selbst die Bundesregierung spricht von rund 8.000 Internierten, die ohne Gerichtsverfahren in Haftanstalten von Milizen verwahrt werden. Folter und Misshandlungen in nichtstaatlichen Haftanstalten führten demnach nicht selten zum Tod.

In anderen Landesteilen seien die Polizei oder die Justizpolizei für die Inhaftierungspraxis verantwortlich. In Libyen besteht keine Möglichkeit, Asyl zu beantragen. Inhaftierte Migranten werden willkürlich abgeschoben.

Innenministerium und Militär kooperieren mit Milizen

"EUBAM Libyen" soll die zersplitterte Sicherheitslandschaft Libyens einen: Das Land wird von verschiedenen Milizen kontrolliert, die teilweise dem Militär, aber auch dem Innenministerium zugeneigt sind. Der größte kämpfende Verband sind die "Misrata Briagden", die aus rund 200 einzelnen Milizen bestehen und angeblich 40.000 Kämpfer umfassen.

Die "Ansar al-Sharia Brigade" propagiert die Einführung des islamischen Rechts und wird von den USA für den Anschlag auf das US-Konsulat in Benhgazi vom Herbst 2012 verantwortlich gemacht. Das Militär kann sich auf die Hilfe des "Revolutionaries Military Council" stützen, der rund zwei Dutzend regionale, bewaffnete Gruppen vereinigt und 2011 bekannt wurde, als er den früheren Oberst Muammar Gaddafi nach seinem Aufspüren festhielt. "Zintan"-Gruppen werden auch für die Angriffe auf den Übergangsrat in Tripolis von letzter Woche verantwortlich gemacht.

Die vor einem Jahr gestartete EU-Polizeimission wollte eigentlich rund 24.000 Angehörige von Milizen in die neu geschaffenen "Grenzschutztruppen" integrieren. Mittlerweile ist "EUBAM Libyen" um ein weiteres Jahr verlängert worden. Jedoch sind bislang nur wenige Hundert Grenzschützer ausgebildet worden.

Es ist unklar, welche libyschen Ministerien hiervon profitierten und welcher EU-Mitgliedstaat die Maßnahmen durchgeführt hat. Auch die Vereinigten Arabischen Emirate haben libysche Polizei- und Militärangehörige mit Trainingsmaßnahmen unterstützt. Auch Katar hat ein Abkommen zur bilateralen Partnerschaft abgeschlossen.

Enger Kontakt zur deutschen "Ölindustrie"

Deutschland hat zwei Bundespolizisten und eine Landespolizistin an "EUBAM Libyen" entsandt (Deutsche Polizei hilft bei militärischer Grenzsicherung in Libyen). Zudem arbeite eine "zivile Expertin" mit. Doch es gibt weiteres deutsches Personal: Im Auftrag des Auswärtigen Amts führt die Gesellschaft für Reaktorsicherheit ein Projekt mit der libyschen Atombehörde durch. Später soll ein Lager für radioaktive Stoffe eingerichtet werden.

In der Bundespressekonferenz hieß es am Mittwoch letzter Woche, die Polizisten seien noch im Land. Einen Tag zuvor sei aber "angesichts der eskalierenden Lage in Tripolis und auch in Bengasi" im Auswärtigen Amt ein Krisenstab zusammengetreten, der "Sicherheitsmaßnahmen" veranlasst habe. Man halte "engen Kontakt" zu "Vertretern deutscher Unternehmen, die in der Ölindustrie im Einsatz sind". Zu den im deutschen Auftrag entsandten Atomarbeitern machte der Sprecher keine Angaben.

Die Bundespolizei darf auf direktem Wege - anders als viele andere EU-Ausbilder - lediglich mit dem libyschen Innenministerium kooperieren. Die ebenfalls an "EUBAM Libyen" beteiligten Einheiten der maltesischen Küstenwache oder die italienischen Carabinieri unterstehen ebenfalls dem Militär und gelten als "robuste Polizeieinheiten", die auch im Rahmen von Bürgerkriegshandlungen eingesetzt werden dürfen.

Libyens Innenminister zeigt Sympathie für die irreguläre "Nationale Armee"

Offiziell beteiligt sich die Bundespolizei bzw. die teilnehmende deutsche Länderpolizei also lediglich an der Ausbildung von Polizisten. Die deutschen Teilnehmer von "EUBAM Libyen" arbeiten dabei mit jenen Abteilungen der libyschen Polizei zusammen, die dem Innenminister Salih al-Mazig unterstehen.

Doch nun wird auch dieser zur Konfliktpartei, wenn er wie berichtet den General Haftar und die Militäroffensive seiner "Nationalen Armee" unterstützt. Eine entsprechende Erklärung habe der Innenminister laut BBC auf seiner Facebook-Seite veröffentlicht, tags darauf aber abgeschwächt.

Die deutsche Bundespolizei dürfte vor allem mit der Grenzpolizei zusammenarbeiten, die dem Innenministerium untersteht. Vermutlich beschränkt sich der Einsatzort auf den Flughafen in Tripolis, denn Reisen in andere Landesteile gelten als zu gefährlich. Das deutsche Bundesinnenministerium dürfte aber auch mit dem "National Security Directorate" kooperieren, das als eigentliche Polizei fungiert und den verkehr überwacht, Ermittlungen durchführt oder für den Schutz öffentlicher Einrichtungen zuständig ist.

Auch die ebenfalls dem libyschen Innenministerium angegliederte "Anti-Crime Unit" übernimmt kriminalpolizeiliche Aufgaben. Jedoch soll sie im Herbst in die Entführung des früheren Premierminister Ali Zeidan verwickelt gewesen sein.

Ebenfalls zum Innenministerium gehört die "Special Deterrence Force", die den Drogenhandel bekämpfen soll und auch Festnahmen durchführen darf. Auch diese Einheit hatte sich mit der Regierung angelegt: Von ihr kontrollierte Gebäude mussten im November an die Luftwaffe übergeben werden.

Ähnliches Kompetenzgerangel berichtet die BBC über die Abteilung "Libya Revolutionaries Operations Room", die eigentlich mit der Sicherheit in der Hauptstadt beauftragt war, hiervon aber im Herbst auf Weisung des Innenministers entbunden wurde: Nach einem Beschluss des Übergangsrates ist das Kommando über den "Libya Revolutionaries Operations Room" mittlerweile an das Militär übergegangen.

Zwielichtiger Trainingskurs in Frankfurt

Hätte die Bundespolizei mit den jetzt abgespaltenen, quasi-militärischen Abteilungen des Innenministeriums kooperiert, würde es sich um eine unzulässige Ausbildungshilfe handeln. Denn dann müsste sich das Bundesinnenministerium den Vorwurf einer Unterstützung von jetzt kämpfenden Gruppen stellen.

Nach einem Bericht des Libyan Herald hat der "Libyan Revolutionaries Operations Room" seine Mitglieder aufgefordert, die Streitkräfte "temporär" zu verlassen. Nach Medienberichten kämpft die Abteilung zusammen "Special Deterrent Force" nun gegen die "Zintan"-Milizen, die mit dem rebellierenden Militär sympathisieren. Träfe dies zu, wäre das Innenministerium in Kräfte zerfallen, die sich nun gegenseitig bekämpfen. Fraglich ist, mit wem die deutsche Bundespolizei dann noch kooperiert.

Die gesamte EU-Polizeimission in Libyen ist eine bislang 60 Millionen teure Pleite, was im derzeitigen Schlammassel aber keiner der Beteiligten eingestehen wird. Schon letzten Herbst hatte der für "EUBAM Libyen" zuständige Europäische Auswärtige Dienst angeregt, Teile der Mission nach Malta zu verlagern. Als Grund galt die prekäre Sicherheitslage, die auch für das weitgehende Scheitern der Mission verantwortlich sein soll.

Ausbildungsmaßnahmen für libysche Sicherheitskräfte finden aber auch in Deutschland statt: Das US-Generalkonsulat in Frankfurt hatte Anfang des Jahres einen Trainingskurs zur Sicherung der libyschen Landgrenzen ausgerichtet. Welche libyschen Behörden die Maßnahme adressierte und was verabredet wurde, ist nicht bekannt. Es liegt aber nahe, dass sich das Treffen an jene neuen, quasi-militärischen "Grenzschutztruppen" richtete, die nun gegen die amtierende Regierung kämpfen.

Vielleicht handelte es sich aber auch um ein geheimes Training von "Antiterror-Elitetruppen": Am Dienstag hatte die New York Times über ein entsprechendes US-Programm berichtet, das nun Libyen aufgedeckt wurde. Die Information deckt sich jedenfalls mit libyschen Meldungen, wonach die "Grenzschutztruppen" auch Spezialtechniken üben würden.