Der Irak vor dem Kollaps?

Sunnitische Islamisten rücken auf Bagdad vor und haben 80 türkische Geiseln. Wie reagieren Türkei und Nato?

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Der Bürgerkrieg in Syrien hat den islamistischen Kräften in der Region weiteren Aufschub gegeben, aber es war schon lange klar, dass die Politik der schiitisch dominierten Maliki-Regierung, die die Sunniten schnitt und sich dabei auch über Wahlergebnisse hinwegsetzte, die Gewaltspirale nach dem Abzug der Amerikaner weiter anheizen würde.

Maliki hat wohl, um Unabhängigkeit von den Amerikanern zu demonstrieren, zudem einen entscheidenden strategischen Fehler begangen und ein Abkommen mit der US-Regierung abgelehnt, weiter Truppen im Land zu belassen. Jetzt würde die irakische Regierung, wie das Wall Street Journal berichtet gerne Luft- oder Drohnenangriffe der Amerikaner wünschen.

Nun kann also die US-Regierung aus der Ferne zuschauen, wie der Irak wohl nun durch die mächtig gewordene Islamisten-Kampfgruppe ISIL, die auch Teile Syriens beherrscht (Dschihadisten-Blitzkrieg), auseinanderzubrechen droht. Das allerdings wurde schon lange als Gefahr vorhergesehen, zumal die Kurden ihre schon unter Hussein gefestigte Sonderstellung, die ihnen die Flugverbotszonen gewährleistete, beibehalten haben und bereits eine weitgehend autonome Region sind. Besonders der Kampf um die Ölressourcen hat immer mal wieder zu Konflikten mit der Zentralregierung geführt, die an der Schwelle von militärischen Auseinandersetzungen standen. Man wird sich erinnern, dass Bush sen. den Vormarsch auf Bagdad und den Sturz Husseins deswegen stoppte, weil die Angst bestand, dass dann der Irak zerfallen würde.

Die USA unter Barack Obama hat sich von der militärischen Interventionspolitik seines Vorgängers abgewandt, auch wenn weiterhin auf die Demonstration militärischer Stärke gesetzt wird, wie derzeit gegenüber Russland in Ukraine-Krise deutlich wurde. In Syrien hat die Zurückhaltung allerdings dazu geführt, dass die von Golfstaaten unterstützten islamistischen Gruppen immer stärker wurden, die auch mit sunnitischen Kämpfern im Irak zusammenarbeiteten und wie al-Qaida das Ziel haben, einen islamischen Gottesstaat, ein Kalifat, zu errichten. Der überwiegend von - "überflüssigen" - Männern dominierte Aufstand ist religiös und antiwestlich, aber stark von Nationalismus und einem Befreiungskampf sowie von militanter Abenteuer- oder Frontlust und hoher Gewalt und Grausamkeit geprägt (sieht man sich die martialischen Posen und die ikonische Bedeutung der Waffen an, könnte man auch Vergleiche zu den pro-ukrainischen und separatistischen Gruppen in der Ukraine ziehen).

Geheimnisvoll ist schon der Führer von ISIS. Von Abu Bakr al-Baghdadi, der schon als neuer Bin Laden bezeichnet wird, gibt es, ähnlich wie vom Taliban-Führer Mullah Omar, kaum Bilder. Er stammt aus dem irakischen Samarra und will direkt von Mohammed abstammen. Er war ab 2005 mehrere Jahre in amerikanischer Gefangenschaft, wo er wohl mit al-Qaida-Kämpfern bekannt wurde. Nachdem die Amerikaner al-Qaida im Irak auch durch die Tötung von Führern geschwächt hatten, setzte sich Abu Bakr al-Baghdadi an die Spitze, die sunnitischen Islamisten wurden aber erst mit dem Konflikt in Syrien wieder stark. 2013 löste sich ISIL von al-Qaida und ihrem Führer al-Sawahiri als eigenständige Bewegung ab und kämpfte in Syrien auch gegen al-Qaida-Gruppen.

Angesichts der Erfolge von ISIL im Irak hofft nun der irgendwie wieder gewählte, von Russland unterstützte syrische Präsident al-Assad auf eine Kehrtwende des Westens. Man kämpft gegen denselben Feind. ISIL hat die Mitarbeiter des türkischen Konsulats und deren Familienangehörigen in Mosul gefangen genommen, insgesamt sind 80 Türken in der Hand der Islamisten. Der türkische Außenminister rechtfertigte, das Konsulat nicht geschlossen zu haben, und drohte den Entführern.

Damit wird der Nato-Staat Türkei, der sich für syrische Opposition eingesetzt hat, seit einiger Zeit aber innenpolitische Probleme hat, in den Konflikt hineingezogen. Die türkische Regierung hat schon mal über False-Flag-Szenarien nachgedacht, um militärisch in Syrien zu intervenieren (False-Flag-Operation mit zahlreichen Toten?). Das macht die Situation noch einmal gefährlicher, da im Hinblick auf den Irak und Syrien auch das Kurdenproblem kommt.

Auf Veranlassung der Türkei wurde eine Sondersitzung der Nato einberufen. Man werde die Vorgänge genau beobachten, hieß es seitens der Nato, es wurde große Sorge geäußert. In einen Konflikt im Irak hineingezogen zu werden, dürfte der Nato nicht gefallen, die derzeit vor allem um eine gemeinsame Strategie in der Ukraine-Krise und im Verhältnis zu Russland ringt.

Derweil haben die Kämpfer von ISIL das Momentum, wie man sagt. Militär und Polizei der Zentralregierung scheinen Angst und wenig Lust aufs Kämpfen zu haben. Die Soldaten legen die Waffen nieder oder fliehen, so dass nun die Islamisten immer besser ausgerüstet sind. Die Islamisten haben nun auch Tikrit, die Heimatstadt Husseins, eingenommen und wollen nun Bagdad ansteuern. Auch wenn eine schnelle Machtübernahme angesichts einer korrupten Regierung durch eine entschlossene Gruppe durchaus möglich erscheint, ist kaum denkbar, dass die Islamisten über längere Zeit große Gebiete kontrollieren können. Bagdad, wo auch viele Schiiten leben und es schiitische Milizen gibt, eine Stadt, die auch weiterhin geteilt ist, dürfte kaum zu halten sein. Trotzdem erwägt die US-Botschaft bereits Evakuierungspläne. Die Folgen sind jetzt schon unübersehbar. Hunderttausende sind aus den von den islamistischen Kämpfern "eroberten" Städten geflohen.