Arzneimittelzulassung: Nur schauen, nicht anfassen?

Die europäische Arzneimittelbehörde probt den Rückzieher und versucht einen nutzlosen Sichtungszugang zu den wichtigen Studienprotokollen durchzusetzen

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Seit Jahren bemühen sich unabhängige Forscher um den Zugang zu den originären Protokollen von klinischen Studien zur Arzneimittelzulassung. Zu klar sind die Beweise dafür, dass mit den durch die Hersteller zur Verfügung gestellten und in Fachjournalen besprochenen Daten keine vernünftigen Analysen möglich sind. Die Firmen halten nicht nur für sie negative Studien zurück, sie scheuen sich auch nicht, die Daten nach ihren Gutdünken zu manipulieren. Das steht unbestritten fest, diskutiert wird nur noch über das Ausmaß der Katastrophe, die dazu geführt hat, dass für eine Vielzahl von Medikamenten das Wirk- und Nebenwirkungsspektrum ungesichert ist, geschweige denn fest steht, ob sie gegenüber älteren Substanzen Vorteile haben.

Die für die Zulassung von neuen Medikamenten zuständige Europäische Arzneimittelbehörde EMA verhielt sich lange Zeit auffällig unauffällig. Zu gut die Lobbyarbeit, zu stark der Druck, zu wichtig die Arbeitsplätze. Erst öffentlicher Druck führte in den letzten Jahren zu mehr Transparenzwilligkeit, aber, so wie es scheint, nicht zu einem Umdenken in der Behörde.

Im vergangenen Jahre hatte die EMA einen Entwurf für einen Leitfaden zur Veröffentlichung von Studiendaten vorgelegt, der eine weitreichende Transparenz vorsah. Die Fachwelt zeigte sich zufrieden. Umso empörter geriet die Reaktion, als erst Ende Mai diesen Jahres bekannt wurde, dass im Juni ein gründlich überarbeiteter Entwurf zu Abstimmung kommen sollte.

Danach hätten Wissenschaftler die Studiendaten lediglich am Bildschirm betrachten dürfen. Untersagt wären dagegen Herunterladen, Abspeichern, Bearbeitung, Abfotografieren, Ausdrucken, Verteilung und die Übertragung der Informationen. Ein absurdes Vorgehen, von einer "Veröffentlichung" kann nicht gesprochen werden.

Der EMA war völlig klar, dass unter diesen Bedingungen jedwede wissenschaftliche Auswertung klinischer Studiendaten unmöglich ist. Schon jetzt ist der Umgang mit den Protokollen aufwändig, die Daten liegen in oftmals in unterschiedlichen Formaten vor, die Einigung auf einen Standard liegt in weiter Ferne.

Das Einknicken der EMA gegenüber den Interessen der Industrie geht aber noch weiter. Im Rahmen der Zulassungsanträge sind die Hersteller zukünftig verpflichtet, zwei Varianten ihrer Studienberichte einzureichen. Einen vollständigen, anhand dessen die EMA über die Zulassung entscheidet, der aber geheim bleibt. Der andere ist eine gekürzte, unvollständige Version für die Fachöffentlichkeit. Zudem sind die Vorgaben zur Schwärzung von Studienergebnissen und Berichten, die Rückschlüsse auf Personen zulassen, so vage formuliert, dass große Bereiche unleserlich gemacht werden könnten.

Jürgen Windeler, Leiter des deutschen IQWiG (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen), kann sein Entsetzen kaum verhehlen: "Angesichts der Erfahrungen, die wir in den letzten Jahren mit der Industrie gemacht haben, ist dieses Verfahren alarmierend." Die Erfahrungen aus der frühen Nutzenbewertung zeige, wie wertvoll vollständige Studiendaten für die Diskussion um neue Medikamente sind. "Daher überrascht uns dieser plötzliche Rückschritt, der aus unserer Perspektive einfach nicht nachvollziehbar ist."

Über die Gründe für den plötzlichen Schwenk der EMA wird spekuliert. Die Europäische Ombudsfrau Emily O'Reilly vermutet in einem Interview einen Zusammenhang zwischen einem Gerichtsverfahren, das die EMA mit dem Arzneimittelhersteller AbbVie um die Veröffentlichung von Studiendaten ausgefochten hat. AbbVie hatte den Fall jüngst zurückgezogen, Teil der Einigung war allerdings, dass die Firma die Protokolle bearbeiten darf.

Zwischen 2011 und 2013 hatte die EMA Wissenschaftler limitierten Zugang zu Rohdaten gegeben, zwei Hersteller hatten dagegen Klage erhoben, unter anderem AbbVie, seitdem ist die Quelle versiegt. Forscher aus dem unabhängigen Cochrane-Netzwerk hatten noch rechtzeitig angefragt, ihre jüngst veröffentliche Meta-Analyse über mehrere Studienprotokolle zum Antidepressivum Duloxetin zeigt, wie wichtig der Zugang zu den Rohdaten ist.

In mühevoller Kleinarbeit haben die Autoren aus über 13.000 Seiten die Inkonsistenzen herausgearbeitet. In den Rohdaten der neun untersuchten placebokontrollierten Studien fanden sich nicht nur Beschreibungen schwerer Nebenwirkungen, die in den Fachzeitschriften-Artikeln nicht auftauchten. Auch waren die Effekte teilweise positiver dargestellt, als es die Daten hergaben. Zwei der neun Studien wurden nie veröffentlicht. Genau in diesen beiden wurden keine signifikanten Effekte des Wirkstoffs gefunden. Aber es kommt noch besser: In einer dritten Studie zeigt das Protokoll keine signifikante Wirkung des getesteten Arzneimittels, im veröffentlichten Fachjournalartikel wird dies allerdings behauptet.

Die Beispiele lassen sich fortsetzen: Anfang diesen Monats veröffentlichte das British Medical Journal einen Beitrag, in dem eine Forschergruppe erst durch die gründliche Analyse der Studienprotokolle zeigen konnte, dass ein anderes Antidepressivum, Reboxetin, keine Vorteile gegenüber Placebo hat. Und im Oktober 2013 konnten Forscher vom IQWiG anhand von 101 ausgewerteten Studienprotokollen zeigen, dass diese deutlich mehr wichtige Informationen enthalten als die Fachpublikationen.

Im Vorwege der Abstimmung am 12. Juni kam es zu zahlreichen Protesten gegen die neue Richtlinie. Die EMA lenkte ein und will nun im Juli eine erneute überarbeitete Version veröffentlichen, die wahrscheinlich einen wiederum eingeschränkten Download der Daten ermöglicht. Ob der vage formulierte Passus um die Schwärzungen ebenfalls revidiert wird ist unklar.

Es bleibt dabei: Die EMA steht unter starkem Druck der Industrie, so wenig Transparenz wie möglich zuzulassen. Um valide Meta-Analysen über Arzneimittelwirkungen durchführen zu können, sind Forscher allerdings auf die Studienprotokolle angewiesen. Sie allein bieten die nötigen Rohdaten. Ein öffentlicher Zugang ist unabdingbar. Ein weltweiter Standard ist nötig, um diese Daten maschinenlesbar zu halten.