Drei-Staaten-Lösung

Irak: Ist es langfristig realistisch, sich an ein Nationsgebilde zu klammern, mit dem sich kaum jemand identifiziert?

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Die salafistische Terrorgruppe Islamischer Staat Irak und Levante (ISIL) hat am Montag nicht zum angekündigten Sturm auf Bagdad angesetzt, sondern die 220.000-Einwohner-Stadt Tal Afar eingenommen, die an einer Transitstraße zwischen Mosul und der syrischen Grenze liegt. Angeblich kamen bei der Eroberung auch schwere Waffen zum Einsatz, die man bei der Einnahme Mosuls in der letzten Woche erbeutet hat. Andere irakische Panzer und Kanonen wurden der oppositionellen Beobachterstelle für Menschenrechte zufolge in Syrien gesichtet, wo aktuell vor allem um Aleppo gekämpft wird.

Weil in der alten osmanischen Garnisonsstadt Tal Afar vor allem Turkmenen leben, als deren Schutzmacht sich die Türkei traditionell versteht, verschärfen die Salafisten mit ihrer neuen Eroberung den Gegensatz zum nördlichen Nachbarn, dessen Rolle in diesem Konflikt nicht ganz klar ist: Einerseits wurden letzte Woche 48 türkische Konsulatsinsassen und 32 türkische Lastwagenfahrer (von denen nicht bekannt ist, was sie transportierten) von ISIL verschleppt, andererseits gibt es von Zeugenaussagen untermauerte Vorwürfe, nach denen türkische Behörden noch in diesem Frühjahr Dschihadisten nicht nur passive Unterstützung (durch das Ignorieren von Grenzübertritten aus und nach Syrien) gewährten, sondern auch aktiv salafistische "Rebellen" ausbildeten. Der stellvertretende türkische Ministerpräsident Bülent Arınç wies diese Vorwürfe jedoch zurück.

Fest steht, dass sich die irakische Armee auch bei der Einnahme von Tal Afar als verteidigungsunfähig erwies: Nach Gefechten am Wochenende zogen sich die Soldaten in der Nacht von Sonntag auf Montag zurück und überließen die Gegenwehr einigen hoffnungslos unterlegenen Milizionären. Nachdem sich auch diese ergeben hatten, öffneten die Salafisten – wie in den anderen eroberten Städten – die Gefängnistore und rekrutierten gewaltbereite Mitstreiter. Angeblich zufolge schlossen sich den Salafisten auch zahlreiche der insgesamt 30.000 sunnitischen Soldaten an, die bei der Einnahme Mosuls in der letzten Woche desertierten.

Dafür melden sich nach einem Aufruf des Ayatollahs Ali al-Sistani zahlreiche Schiiten, die ihre Heimat, ihre Frauen und ihre religiösen Heiligtümer gegen die anrückenden Salafisten verteidigen wollen. Angesichts solcher Berichte kann man nur mehr sehr bedingt von einer multi-ethnoreligiösen irakischen Armee als relevanter militärischer Größe ausgehen: Stattdessen gibt es bewaffnete Kurden, Schiiten und Sunniten, die für ihre jeweilige Volksgruppe schießen. Und man muss sich fragen, wie sinnvoll es ist, weiter an der Fiktion eines Iraks in den Grenzen von 1920 festzuhalten, anstatt die normative Kraft des Faktischen und eine Drei-Staaten-Lösung zu akzeptieren.

Gäbe es drei Staaten mit echten Staatsvölkern auf dem Gebiet des heutigen Irak, wäre es möglicherweise einfacher, den Terror zu bekämpfen, weil manche Sunniten dann ISIL mutmaßlich nicht mehr als kleineres Übel im Vergleich zu einer "safawidischen" (schiitischen) Fremdherrschaft dulden oder unterstützen würden: Die Salafisten, für deren Ideologie ISIL kämpft, sind nämlich nur eine Teilmenge der Sunniten. Viele der Fanatiker stammen auch nicht aus dem Irak oder aus Syrien, sondern kamen aus aller Welt angereist. Manche von ihnen tragen den Terror nach Europa, wie beispielsweise der Franzose arabischer Herkunft, der im Mai im Jüdischen Museum in Brüssel drei Menschen ermordete. Am Samstagabend nahm die Bundespolizei im Berliner Flughafen einen weiteren aus Syrien angereisten Mahgrebiner mit französischem Pass fest, der nach Informationen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein "dicker Fisch" ist und unter anderem im Verdacht steht, einen Anschlag vorzubereiten.

Auf das Konto von ISIL-Terroristen geht möglicherweise auch das Verschwinden dreier Talmudschüler im Westjordanland die wahrscheinlich entführt wurden. In einem Schreiben, dessen Echtheit von den israelischen Sicherheitsbehörden bislang nicht bestätigt wurde, bekennen sich Anhänger der Gruppe, die die Eroberung von Israel und der Westbank im Namen trägt, zu dem Verbrechen.

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