Versinkt der Irak im Religions- und Bandenkrieg?

Mit der Einnahme von Tal Afar durch ISIL und von Kirkuk durch die Peshmarga wollen auch die irakischen Turkmenen zum Selbstschutz Milizen wie die Schiiten, Sunniten und Kurden aufstellen

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Der offenbar auch für die mächtig geltenden amerikanischen Geheimdienste überraschende Vorstoß der islamistischen ISIL im Irak, die sich aufgrund der schon lange gegen die Sunniten gerichteten Politik der Maliki-Regierung auf die Unterstützung oder zumindest Duldung weiter Kreise der sunnitischen Bevölkerung stützen konnte, scheint schnell zu einem Zerfall des Zentralstaats zu führen. In die Kämpfe verwickelt sind nicht nur ISIL-Militante, sondern auch andere sunnitische Militante und Gruppen von Ba'ath-Anhängern, die von ehemaligen Offizieren des Hussein-Regimes befehligt werden. Mit der erneuten Einnahme von Tal Afar durch ISIL, wo sich wieder die irakischen Truppen abgesetzt haben, und von Kirkuk durch die Peshmerga drohen die Kämpfe neben Kurden, Schiiten und Sunniten nun auch die Turkmenen zu erreichen und die Türkei neben Iran und Syrien noch weiter in den Konflikt zu ziehen.

Der Erfolg von ISIL wurde vor allem durch die von der überwiegend schiitischen Maliki-Regierung beschlossene Räumung eines Protestcamps der Sunniten im April 2013 in al-Hawijah bei Ramadi beschleunigt. Sunniten haben seit 2012 nach dem Abzug der Amerikaner in den von ihnen mehrheitlich bewohnten Gebieten gegen die Diskriminierung, Unterdrückung und Verfolgung durch die Maliki-Regierung und die mangelnde politische Macht der Sunniten in Regierung und Parlament protestiert. Weil ein irakischer Soldat getötet worden war und man die Täter im Protestcamp vermutete, wurde dieses schließlich vom Militär geräumt. Dabei kam es zu Schießereien, mindestens 25 der Protestierenden wurden getötet, zahlreiche verhaftet. Danach kam es zu Unruhen und verstärkte sich die Zusammenarbeit von Stammesführern, Islamisten und Anhängern des alten Regimes. Viele Sunniten sitzen in Gefängnissen, in denen gefoltert wird. Maliki stützt sich auf Geheimdienste und Sondereinheiten, die nur seinem Befehl gehorchen und willkürrlich agieren. Geistliche riefen zum Kampf gegen die schiitische Regierung auf. Die Zahl der Anschläge nahm enorm zu, fast 8000 Zivilisten und Polizisten wurden bei Anschlägen getötet, so viele wie zum Höhepunkt der Gewalt 2008.

Die US-Regierung weiß natürlich um den Hintergrund, also dass nicht alleine ISIL-Terroristen am Werke sind, und fordert Maliki, der zunehmend autokratisch regierte und versuchte, alle Machtpositionen mit Schiiten zu besetzen, vor jeder Hilfe dazu auf, nun endlich die Sunniten an der Macht zu beteiligen. Zwar hatte die Partei von Maliki bei den letzten Wahlen im April 2014 mit einer relativ hohen Wahlbeteiligung von 60 Prozent die meisten Stimmen eingefahren, aber sie ist weit von einer parlamentarischen Mehrheit entfernt und muss mit anderen Parteien koalieren, was bislang nicht vorangekommen ist, sodass Maliki mit seiner Regierung weiterhin im Amt ist. 2010 wurde Maliki nach den Wahlen, bei der seine Partei nur zweitstärkte parlamentarische Kraft nach der eher sunnitisch geprägt al-Irakija wurde, zwar zum Regierungschef, aber nur, weil er auch unter großem Druck der US-Regierung ein übergreifendes Parteienbündnis zuließ, das aber schnell wieder zerfiel und nur Malikis schiitisches und kurdisches Regierungsbündnis übrigblieb.

Es entstehen nach dem Scheitern der Armee, die in Mosul und anderswo nicht gegen zahlenmäßig weit unterlegene Gegner kämpfen wollte, teils auch, weil es sich um sunnitische Soldaten unter dem Befehl schiitischer Offiziere handelte, immer mehr Milizen, die eigene Interessen verfolgen. Ganz ähnlich hat sich der Konflikt im Übrigen in der Ukraine entwickelt, in der eine schwache Armee die Aufständischen nicht niederschlagen konnte. Während aber in der Ukraine "nur" Sepataristen im Osten gegen ukrainische Nationalisten kämpfen, herrscht im Irak ein Religionskrieg zwischen Schiiten und Sunniten, wobei die nach Autonomie strebenden Kurden die Lage noch komplizierter machen und jetzt die Turkmenen noch dazu kommen.

Das Problem der Maliki-Regierung ist nicht nur die einseitige Politik und die trotz der Wahlergebnisse nicht erfolgte Integration der Sunniten, sondern auch die fehlende Luftwaffe. Diese sicherte dem syrischen Assad-Regime das Überleben und zunehmende Erfolge. Die irakische Armee verfügt bislang nur über Hubschrauber. Das hat auch damit zu tun, dass die Maliki-Regierung kein Abkommen über die weitere Stationierung von US-Truppen im Irak abschließen wollte, um sich nicht als Stellvertreterregierung darzustellen. Jetzt zögert die US-Regierung, die Maliki-Regierung mit Drohnen und Luftwaffe gegen die Islamisten zu unterstützen, sofern diese nicht endlich die Sunniten an der Macht beteiligt. Aber das wird nicht wirklich, vor allem nicht schnell genug geschehen, zumal die nach Autonomie strebenden Kurden mit der Einnahme von Kirkuk und anderen Städten das von ihnen kontrollierte Territorium erweitert haben. Zwischen der Zentralregierung und den Kurden gab es auch in der Vergangenheit zahlreiche Konflikte, die bis knapp zu militärischen Auseinandersetzungen reichten. Dabei ging es vor allem um die Ölressourcen und die daraus entstehenden Gewinne, die die Kurden für sich behalten wollen. Mit der Kontrolle von Kirkuk und den umliegenden großen Ölfeldern durch den Vormarsch der ISIL haben die Kurden erst einmal ihren Zugriff auf die größten Ölfelder und das Zentrum der Ölproduktion gesichert.

Während die Zentralregierung mit ihrem Aufruf zum Kampf gegen die sunnitischen Militanten großen Erfolg zu haben scheint und sich bereits 30.000 Schiiten gemeldet haben sollen, wollen nun auch die Turkmenen eine Miliz bilden. Anders als Sunniten, Schiiten und Kurden haben sie bislang noch keine bewaffneten Gruppen. In Kirkuk lebt die größte Gemeinschaft von Turkmenen im Irak, in Tal Afar leben sunnitischen und schiitische Turkmenen neben irakischen Sunniten und Schiiten. Schon gestern kündete Ersad Salihi, der Chef der Front der Irakischen Turkmenen (ITC) an, eine Miliz aufbauen zu wollen: "Die Menschen sind verpflichtet, sich selbst zu verteidigen. Alle anderen Gruppen haben Milizen. Wir bekommen Probleme, weil wir keine Waffen haben." Die Waffen der Zentralregierung bekämen die Schiiten, Sunniten und Kurden seien bereits bewaffnet.

Dabei stehen nicht die ISIL-Militanten im Vordergrund, sondern die kurdischen Peshmerga, die Kirkuk offenbar ebenso kampflos einnehmen konnten wie ISIL Mosul. Nach einer Vereinbarung zwischen der irakischen Zentralregierung und der Kurdischen Regionalregierung würden die Peshmerga dort einspringen, wo die Zentralregierung mit ihren Soldaten nicht handlungsfähig ist. Und das sei eben vor allem im Nordirak. Salihi betonte, dass Kirkuk nach Ansicht der Turkmenen nicht zur kurdischen Region gehört. Man werde auch nicht mit der Peshmerga zusammenarbeiten, das seien bezahlte Söldner. Er kritisierte auch die fehlende Hilfe aus der Türkei.

Der türkische Regierungschef Erdogan hatte bereits gestern angesichts der Kämpfe um Tal Afar vor einem Bürgerkrieg gewarnt. Die Provinz Tal Afar sei hauptsächlich von Turkmenen bevölkert, man schätzt es sind zwischen 400.000 und 450.000. In der 200.000-Einwohner-Stadt Tal Afar würden 5000 Turkmenen leben. Man dürfe die Entwicklungen "nicht unterschätzen", sagte Erdogan und verwies darauf, dass die Hälfte der Turkmenen Sunniten und die andere Hälfte Schiiten seien. Letztere könnten zu Angriffszielen der sunnitischen ISIL werden. Die hat angeblich bereits angekündigt, die Kirchen in Mosul zu zerstören. Erdogan hält sich offenbar zurück, da weiterhin 80 Türken, davon viele Mitarbeiter des Konsulats in Mosul, von ISIL als Geiseln gehalten werden.

Mit der Hilfe von schiitischen Freiwilligenverbänden und schiitischen Milizen, beispielsweise der Mahdi-Armee des Geistlichen as-Sadr, ist es der Zentralkregierung gelungen, erste Städte in der Provinz Saladin wie Al Dhuluiya wieder von den sunnitischen Militanten zu befreien. Das scheint aber nicht alleine und wahrscheinlich auch nicht hauptsächlich durch Waffengewalt geschehen zu sein. Geholfen haben Gespräche zwischen der Regierung und den lokalen Stammesführern, die den ISIL-Kämpfer ihre Unterstützung daraufhin verweigerten bzw. entzogen. In und um andere Städte wie Tikrit wird gekämpft.