"Die Aufteilung des Irak ist faktisch so gut wie vollzogen"

Peter Scholl-Latour über die Veränderungen im Nahen Osten, die sich aus dem Auftreten von ISIS ergeben haben

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Herr Scholl-Latour, Sie haben alle Länder der Welt bereist, davon viele regelmäßig. Wann waren Sie zum ersten Mal im Irak?

Peter Scholl-Latour: Das war 1951, damals herrschte noch König Faisal und war der Irak noch eine Monarchie. Ich habe den Irak dann im Laufe der letzten Jahre und Jahrzehnte immer wieder bereist, habe das Land unter Saddam erlebt und auch nach dem Einmarsch der Amerikaner.

Glauben Sie, dass angesichts der jüngsten Entwicklung die Existenz des Iraks in seiner bisherigen territorialen Integrität bereits Vergangenheit ist?

Peter Scholl-Latour: Ja, das ist vorbei. In der Region lösen sich die einst von den Kolonialmächten gezogenen Grenzen auf. Der Irak, in seinen heutigen Grenzen, wurde ja von der britischen Agentin Gertrude Bell erfunden. Die Aufteilung des Irak ist faktisch so gut wie vollzogen. Da haben wir Kurdistan im Norden, dessen Unabhängigkeit durch die enormen Öl-Ressourcen gestützt wird, flankiert von den Peschmerga, als Armee. Daneben den Irak unter Führung al-Malikis , sowie den West-Irak, wo die ISIS-Truppen herrschen.

Die Terrorgruppe ISIS bzw. ISIL plant einen islamischen sunnitischen Gottesstaat im Irak und Syrien zu errichten. Wird ISIS dieses Ziel erreichen?

Peter Scholl-Latour: Dieses Gebilde existiert ja teilweise bereits, über die syrisch-irakische Grenze hinweg. Anführer der ISIS ist Abu Bakr Al-Bagdadi, den die Amerikaner zum gefährlichsten Mann der Welt ernannt haben. Es handelt sich in der Tat um einen unheimlichen Menschen, der ein zusammenhängendes Gebiet unter seine Kontrolle gebracht hat, welches von Syrien- östlich des Euphrat bis in den Westen und Norden des Irak reicht.

Was sind die Ursachen, für die Stärke und die militärische Schlagkraft von ISIS?

Peter Scholl-Latour: Die ISIS profitierte von der ausländischen Unterstützung im Syrischen Bürgerkrieg gegen Assad. Die Türken und der Westen haben ja den Fehler begangen, die Aufständischen in Syrien völlig wahllos zu unterstützen.

Die Amerikaner hatten das Ziel, die relativ liberale Freie Syrische Armee zu protegieren, ohne zu bedenken, dass die islamistischen Kräfte, bestehend aus kampferprobten Dschihadisten, die schon in Afghanistan und Tschetschenien aktiv waren , der Freien Armee die Waffen entwenden würden. Das ist jetzt auch wieder in Mossul zu beobachten, wo von den USA an die irakische Regierungsarmee gelieferte Waffen nun den Dschihadisten in die Hände gefallen sind.

Woher stammen die Kämpfer des ISIS?

Peter Scholl-Latour: Al Bagdadi verfügt über etwa 15.000 ISIS-Kämpfer, davon sind aber nur die wenigsten aus dem Irak oder Syrien. Vielmehr handelt es sich überwiegend um zugewanderte Dschihadisten aus dem Kaukasus, größtenteils Tschetschenen, aus Ägypten, Pakistan und vielen anderen Ländern der arabischen Welt. Auch aus Saudi-Arabien, dem engen Verbündeten des Westens, das viele dieser radikalen Gruppen förderte und mehrfach verhindert hat, dass moderatere Formen des Islam zum Zuge kommen.

Von wem wird die ISIS finanziert?

Peter Scholl-Latour: Von den Golf-Emiraten überwiegend, die man im Westen ja als Verbündete gegenüber dem Iran betrachtet. Darüber hinaus sind die Terroristen in der Geldbeschaffung geschult, durch Überfälle, Plünderungen und Erpressungen beispielsweise.

Schon im Jahr 2011 warnten Sie in einem Interview, dass der Bürgerkrieg in Syrien auch auf den Irak übergreift. Fühlen Sie sich bestätigt?

Peter Scholl-Latour: Bedauerlicherweise ja. Bei meinen letzten Besuchen in Bagdad konnte ich feststellen, was für ein Hass sich dort zwischen Schiiten und Sunniten aufgestaut hatte. Bagdad war da als Schutz vor Anschlägen schon längst eingemauert in feindliche sunnitische und schiitische Stadtviertel, ebenso wie die Heiligen Stätten der Schiiten. Es handelt sich ja um einen schiitisch-sunnitischen Bürgerkrieg, der inzwischen vom Libanon bis in den Irak tobt.

Der Iran ist, gemessen an seinem Umfeld, einer der stabilsten Staaten der Region

Ist der Iran bisher der Gewinner der aktuellen Entwicklung?

Peter Scholl-Latour: Iran ist mit Sicherheit der Gewinner, denn wir erleben nun eine Absprache zwischen Amerikanern und Iranern, eine Art Interessen-Solidarität. Der neue iranische Präsident Rohani hat deutlich gemacht, dass er einen fundamentalistischen Sunniten-Staat der Isis nicht akzeptieren kann. Zumal die Schiiten im Irak die Mehrheit stellen. Außerdem hat die Isis angekündigt, die Stadt Kerbela erobern zu wollen. Also die heiligste Stadt der Schiiten überhaupt. Das wird der Iran verhindern. Wenn nötig auch militärisch, was auch im Interesse der Amerikaner ist.

Die Türkei ist wohl eher als Verlierer der Entwicklung zu betrachten?

Peter Scholl-Latour: Erdogan hatte einen großen Fehler begangen ,als er sich so einseitig in die Wirren der arabischen Konflikte einmischte, flankiert von alten Kalifatsträumen.

Die Türkei ist nun in einer komplizierten Lage, da die Grenzen zu Syrien und dem Irak völlig offen stehen, was nicht nur von Flüchtlingen, sondern auch von Terroristen genutzt wird. Zur Befreiung der türkischen Geiseln in Mossul muss Ankara auf die kurdischen Peschmerga-Kämpfer zurückgreifen. Würde die Türkei selbst militärisch eingreifen, würde es zu Konflikten mit den Kurden kommen, sowohl im Nord-Irak, als auch in Nord-Syrien, wo die Kurden sich ja auch von Damaskus losgesagt haben.

Was halten Sie von Al-Maliki? Wird er den ISIS-Truppen standhalten können?

Peter Scholl-Latour: Das wird sicherlich nicht ganz einfach. Maliki machte den Fehler, die sunnitische Minderheit, die zu Zeiten Saddam Husseins herrschte, zu entmachten. Dabei handelt es sich um etwa 20 % der Bevölkerung. Allerdings möchte ein Großteil der irakischen Sunniten nichts mit den Terroristen der ISIS gemeinsam haben, wodurch sich eventuell eine Unterstützung für Maliki ergeben könnte.

Allerdings ist es ein Fehler, al-Maliki jetzt die Schuld für die Entwicklung anzukreiden, wie im Westen häufig geäußert, besonders in den USA, wahrscheinlich um sich dabei auch selbst zu entlasten . Wer sollte denn auch in Bagdad an die Stelle von Maliki treten?